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Ribeira Grande

Mit Höhenangst hinunter in die Schlucht

Lesedauer: ca. 10 Minuten

Eigentlich wollten wir nur einen Kaffee trinken und vielleicht eine Kleinigkeit essen, aber das Restaurant ist geschlossen. Ich schaue auf der Karte in meinem Handy, ob es in der Nähe noch ein anderes Restaurant gibt, finde jedoch keines. Aber einen Wasserfall. Nun gut, dann machen wir eben einen kleinen Spaziergang zu diesem Wasserfall.

Der Staudamm

Wir parken unser Auto an einem Holzschild, das in zwei Richtungen weist: Nach rechts den Berg hinunter geht es zu dem Wasserfall, nach links den Berg hinauf zu einem Staudamm. Es gibt hier also sogar zwei Attraktionen. Wir entscheiden uns als erstes für den Staudamm und gehen somit der Berg hinauf.

So ganz verstehen wir nicht, was das ist, was wir dort sehen: Zwei mit Wasser gefüllte längliche Becken, links daneben eine kräftig dampfende Mauer an einem Hang. Entgegen unserer Erwartung ist das Wasser in den Becken kalt. Nach diesen Becken fließt das Wasser in ein weiteres Becken, das wie ein Infinity-Pool aussieht, der über die Schlucht gebaut wurde. Aber zum Baden wird diese Konstruktion wohl nicht nicht gedacht sein.

Neben diesem Becken verläuft ein großes Wasserrohr den Berg hinunter. Und am anderen Ende, vor den beiden länglichen Becken, befindet sich ein künstlich angelegter Bach, der diese Becken mit Wasser versorgt, und den gehen wir nun entlang. Teilweise verläuft dieser Bach unterirdisch unter dem Weg, zumeist aber neben ihm. Wir wissen zwar immer noch nicht, was das alles hier sein soll, aber die Landschaft ist in jeden Fall wunderschön.

Wir kommen an dem angekündigten Staudamm an. Das Wasser des Stausees wird hier aufgeteilt, ein Teil fließt in den künstlichen Bach, ein anderer Teil hinunter in den ursprünglichen Flusslauf. Wirklich sehr seltsam alles.

Wir drehen um, schließlich wollen wir noch zu dem Wasserfall, und der scheint sich ja in der entgegengesetzten Richtung zu befinden.

Der Weg zum Wasserfall führt neben dem Wasserrohr entlang, das aus den mysteriösen dampfenden Becken von vorhin kommt.
Plötzlich befinden wir uns mitten in einem tropisch-feuchten Girlandenblumen-Dschungel, mitunter müssen wir über Baumstämme oder unter Baumstämmen hindurch klettern. Und danach führt der Weg an einem Hang entlang, an dem es aus zahlreichen Löchern dampft. Ein wirklich abwechslungsreicher Weg also, das muss man schon sagen.

Höhenangst

Aber damit nicht genug, denn ab jetzt ist das Wasserrohr unserer Weg: Über dem Rohr wurden Gitter angebracht und an einer oder teilweise sogar beiden Seiten ein Geländer. Und so bringt uns das Wasserrohr über zahlreiche Hindernisse, bis wir uns irgendwann am Abhang einer tiefen Schlucht befinden.

Und das ist jetzt ein Problem. Denn ich habe Höhenangst.

Wer so etwas wie Höhenangst nicht kennt, der wird sich kaum vorstellen können, was das bedeutet. Es ist keine rationale Angst, beispielsweise davor, dass das Gitter über dem Wasserrohr instabil sein könnte, oder dass man ausrutscht und unter dem Geländer hindurch oder an einer Stelle ohne Geländer in die Schlucht fällt, alles durchaus realistische Gefahren, nein, es ist eine völlig unbegründbare Angst vor dem Zustand, dass ich mich nun in der Höhe befinde. Mein Gehirn empfindet das als große Gefahr. Und bereitet nun meinen Körper darauf vor, auf diese Gefahr zu reagieren, am besten durch Flucht, da die andere Reaktionsmöglichkeit, nämlich Angriff, bei einer Schlucht als Gegner ein wenig unsinnig ist, das akzeptiert sogar mein Gehirn.
Da ich meinem Gehirn nicht sofort gehorche und fliehe, verleiht es seinem Anliegen verstärkt Nachdruck, indem es in mir eine ausgewachsene Panik vor dem erzeugt, was hier gerade passiert. Bis hin zu Todesangst. Ich werde hier sterben, ausgerechnet hier, wo es keine Hilfe geben wird.
Das Beste ist also wirklich, endlich zu fliehen, bevor es zu spät ist. Und je länger ich mich dagegen wehre, um so schlimmer wird die Panik.

Die Höhenangst kam vor gut fünfzehn Jahren in mein Leben. Das erste Mal habe ich sie im Ulmer Münster erlebt, der höchsten Kirche der Welt. Bei der Besteigung des Kirchturms musste ich auf halber Höhe umdrehen, weil mir plötzlich schlecht wurde. Das Umdrehen erwies sich dann als gar nicht so einfach, da die engen Wendeltreppen jeweils als Einbahnstraßen ausgelegt sind, aber irgendwie gelang es mir dann doch, an den nach oben gehenden Leuten vorbeizukommen. Jedenfalls dachte ich damals noch, mein Unwohlsein kommt vielleicht von einer beginnenden Erkältung oder einem womöglich zu schweren Essen. Schließlich konnte ich noch nicht wissen, dass ich nun unter Höhenangst leide und was das für mein weiteres Leben bedeuten soll.

Denn die Höhenangst wurde immer schlimmer. Auf die Besteigung von Kirchtürmen könnte ich noch ganz gut verzichten, aber irgendwann habe ich schon auf der Galerie eines Einkaufszentrums, in einem Treppenhaus oder auf einem kleinen Hügel Panikattacken bekommen, und wenn dann noch die Panik vor der Panik dazukommt, dann ist es eigentlich das Beste, man macht sicherheitshalber gar nichts mehr.

So kann es nicht weitergehen, das habe ich irgendwann eingesehen, und sozusagen mit einer unbetreuten Konfrontationstherapie begonnen: Schrittweise habe ich mich ganz bewusst immer höheren Höhen ausgesetzt und dabei versucht, mit meinen Reaktionen darauf klarzukommen.
Und ich bin dabei mittlerweile eigentlich schon recht gut voran gekommen, finde ich. In der Regel kann ich wieder in Gondeln sitzen, ohne dabei sterben zu müssen, ich kann auf Berggipfel spazieren, endlose Treppen hinauf oder hinunter gehen und auch mal am Abhang einer Schlucht stehen.

Aber irgendwann kommt dann unvermittelt doch wieder ein Punkt, an dem es zu viel ist. Hier zum Beispiel, in dieser Wasserrohrschlucht. Ich kann keinen Meter mehr weitergehen. Und um nicht durchzudrehen muss ich tief in meine Trickkiste greifen, die ich mir mittlerweile erarbeitet habe.

Nadine kennt meinen aktuellen Höhenangst-Trainingszustand recht gut und geht ein Stück voran, um auszukundschaften, was mich da noch erwarten wird. Die Umrundung des nächsten Felsens auf dem Wasserrohr wäre von mir noch zu schaffen, meint sie, aber danach käme eine steile Leiter, die direkt nach unten führt. Und ob ich die schaffen würde, da ist sie sich nicht sicher.

Also werden wir wohl umdrehen müssen. Andererseits ärgert es mich zutiefst, dass ich mich von so etwas Dämlichen wie Höhenangst einschränken lasse. Und außerdem will ich ja weiter gegen meine Höhenangst trainieren. Es dauert ein wenig, aber dann gehe ich los. Um den Felsen herum. Die Leiter hinunter. Und komme unten in der Schlucht an. Uff.
Ein wenig stolz darauf bin ich, gebe ich zu. Das ist vielleicht der einzige Vorteil an so einer Angst, wenn man sie dann mal wieder besiegt hat, dann ist das ein wirklich gutes Gefühl. Auch wenn ich im Moment noch ein wenig Zeit brauche, bis ich mich wieder gut fühle.

Es regnet

Jedenfalls hat sich der Wasserfall als Ziel dieses Spaziergangs gelohnt: Aus beeindruckender Höhe fällt hier das Wasser inmitten eines Felsens steil in mehreren Ebenen hinunter in ein Naturbecken, in dem man baden kann.

Und obwohl wir nicht in diesem Becken baden, werden wir nass. Und wie. Unvermittelt fängt es heftig an zu regnen. Wir gehen ein wenig die Schlucht hinauf, bis wir unter dichten Bäumen stehen. Hier ist es anfangs noch trocken. Aber nicht lange. Der Regen wird immer stärker, und irgendwann sehen wir ein, dass Abwarten nichts bringt, denn die Bäume geben keinen Schutz mehr.

Also gehen wir unter strömenden Regen den Weg bergauf, zurück zu unserem Auto. Wo wir dann nach einiger Zeit völlig durchnässt ankommen. Wir fahren zurück nach Ponta Delgada, etwa eine halbe Stunde brauchen wir für diese Fahrt, und dort steigen wir unter strahlend blauem Himmel aus. Verrücktes Wetter hier auf den Azoren.

Färbendes Thermalwasser

In Ponta Delgada beginnt zwei Blöcke neben unserem Haus eine Parkanlage, und obwohl wir schon ein paar Tage hier sind, haben wir es bisher noch nicht geschafft, uns diese Anlage anzuschauen. Das holen wir am nächsten Morgen nach, unsere letzte Chance, denn am Nachmittag werden wir diese Insel verlassen und auf die Nachbarinsel Santa Maria fliegen.

Lautes Kindergeschrei empfängt uns dort. Der Park beginnt mit einem großen Spielplatz. Nun ja.
Aber gleich danach stoßen wir auf einen Baum mit einem riesigen Wurzelwerk, danach befinden wir uns unvermittelt in einer Topenlandschaft, und um die Ecke befindet sich eine Lavahöhle, durch die man hindurchgehen kann, sofern man sich nicht von den Fledermäusen abschrecken lässt. Faszinierend, was es hier auf derart kleinem Raum alles gibt.

Danach fahren wir noch einmal in die Nähe des Wasserfalls, an dem wir gestern waren, denn dort gibt es noch einen weiteren Wasserfall, und dieser ist eingebettet in ein Thermalbad. Oder umgekehrt. Die Beschreibung hierzu in unserem Reiseführer klingt jedenfalls recht verlockend.

Allerdings sind wir nicht die einzigen, die auf die Idee gekommen sind, hierher zu kommen. Es ist die Hölle los, die Parkplätze sind überfüllt, vor dem Eingang hat sich eine lange Schlange gebildet. Das gefällt uns nun gar nicht, also fahren wir weiter.

Immerhin waren wir auf dieser Insel schon in Thermalwasser baden, und zwar vor ein paar Tagen in Furnas: Dort befindet sich in wunderschöner Landschaft ein Thermalbad an einem Bachlauf, an den links und rechts ein paar Becken gebaut wurden, die mit knapp vierzig Grad heißem Thermalwasser gespeist werden. Seit ich in diesem Thermalwasser gebadet habe, ist meine Badehose rot gefärbt, auch meine Finger- und Fußnägel sind rot, immer noch, obwohl ich schon kräftig geschrubbt habe, und auch eine Narbe ist jetzt rot gefärbt.
Vielleicht ist es also ganz gut, dass wir nicht auch noch in diesem Wasserfallthermalbad baden, denn wer weiß, in welcher Farbe ich hier eingefärbt worden wäre.

Ribeira Grande

Als Alternative fahren wir in die nächstgelegene Stadt, Ribeira Grande. Direkt an der Straße ins Zentrum stoßen wir auf eine Rumfabrik, und die müssen wir uns natürlich ansehen. Besonders lohnenswert ist dieser Abstecher aber nicht, denn außer ein paar Flaschen bekommt man hier wenig zu sehen.

Ribeira Grande verfügt über ein recht nett hergerichtetes Stadtzentrum. Viel interessanter ist es aber, sobald man sich aus diesem Stadtzentrum ein paar Blöcke hinaus bewegt. Hier ist nichts mehr nett hergerichtet. Viele leerstehende Häuser, und auch die noch bewohnten Gebäude befinden sich mitunter in einem ziemlich bedenklichen Zustand. Es folgt ein großer Strand, an dem allerdings das Baden verboten ist, wegen Gefahr für die Gesundheit durch Bakterien.

Direkt am Stadtzentrum befindet sich eine Art Parkanlage, durch die ein Fluss bis zu einer historischen Brücke und dann weiter ins Meer fließt. Künstliche Bäche und Wasserfälle gibt es hier, und über das Hinein- und Herausschieben von Metallplatten kann man den Wasserlauf steuern und dabei einen Wasserfall trockenlegen oder das Wasser in unterirdische Bahnen lenken. Für was das denn? Als Kinderspielplatz wird dieses Staudammspiel wohl nicht gedacht sein, denn hier ist nichts abgesichert und man muss mitunter in beachtlicher Höhe hantieren.
Es dauert einige Zeit, bis wir kapieren, dass es sich hierbei wohl um den Zulauf zu einer ehemaligen Gemeindemühle handelt.
Vielleicht sind die Absperrplatten ja doch nicht dafür gedacht, von neugierigen Touristen bedient zu werden.

Region:Azoren
Ort:Ribeira Grande
Reisedatum:10.09.2018 - 11.09.2018
Autor:Manuel Sterk
Veröffentlicht:23.09.2018
Leser bisher:151

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