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Chile
Santiago

Deutsche Pünktlichkeit

Lesedauer: ca. 8 Minuten

In Chiles Hauptstadt Santiago müssen wir Unmengen an Piscola trinken. Unseren Kater kurieren wir unter einer riesigen Marienstatue aus, kommen dann zu spät zu unserer Verabredung - und sind trotzdem viel zu früh da.

Metro de Santiago

Unser Aufenthalt in Santiago de Chile beginnt äußerst komfortabel: Santiago ist eine der wenigen Städte Südamerikas, die über eine U-Bahn verfügen, und hier hat sie den naheliegenden Namen Metro de Santiago. Und mit dieser Metro kommt man völlig problemlos von A nach B, in unserem Fall vom Busbahnhof zu unserer Unterkunft.

Ein U-Bahn-Netz erschließt sich einem meist völlig von selbst, während ein auf Bussen basierendes Nahverkehrsnetz eine Herausforderung ist, die mich regelmäßig überfordert. Haltestellen, die nicht als solche zu erkennen sind, Buslinien, deren Verlauf nur durch Nachfragen herauszufinden ist, wenn überhaupt, Tickets, die man nirgendwo kaufen kann oder für die man Zahlungsmittel benötigt, über die man gerade nicht verfügt, Haltewunsch-Modalitäten, die man als Nicht-Einheimischer unmöglich kennen kann - zugegeben, spannender ist Busfahren allemal, aber dennoch: Ich liebe Städte mit einem vernünftigen schienengebundenen Nahverkehrssystem.

Piscola

Zwei oder drei Blöcke von unserer Unterkunft entfernt gibt es eine Unmenge an Restaurants und Bars, und dieses gastronomische Angebot nutzen wir heute Abend natürlich aus und trinken erstmal ein Gläschen Bier.

Drinnen im Laden läuft ein Fußballspiel. Ein wichtiges Fußballspiel offensichtlich, der mitfiebernden Stimmung nach zu urteilen. Nach dem Ende des Spiels setzt sich eine Gruppe gutgelaunter chilenischer Fußballfans an den Tisch neben uns und wir kommen ins Gespräch. Daraus wird ein langer und alkohollastiger Abend. Das Nationalgetränk hier scheint Piscola zu sein, Pisco mit Cola, und das muss man offenbar in rauen Mengen zu sich nehmen.

Der Abend endet mit einer Einladung zum Abendessen für den nächsten Tag bei einem der Fußballfreunde. Auch wenn seine Frau, die mittlerweile hinzugestoßen ist, durch die unabgestimmt ausgesprochene Einladung ein wenig überrumpelt wurde.

Mala Caña

Am nächsten Morgen geht es mir nicht allzu gut. Mala Caña heißt das hier, erfahre ich. Das Wort Caña kann alles mögliche bedeuten, Zuckerrohr zum Beispiel oder kleines Glas, aber der Google-Übersetzer führt mit „schlechter Stock“ ein wenig in die Irre. Obwohl, das deutsche Wort Kater ergibt in diesem Zusammenhang ja irgendwie auch nicht wirklich Sinn.
Jedenfalls habe ich im Moment andere Probleme als etymologische Fragestellungen.

Und dann auch das noch: In unserer Unterkunft stinkt es plötzlich heftig nach Benzin.

Wir finden heraus, dass der Gestank von dem Reinigungsmittel kommt, mit dem der Fußboden bearbeitet wurde. Da wir heute Nacht ungern in einer Tankstelle übernachten wollen, sind wir kurz davor, uns eine neue Unterkunft zu suchen, was in dieser Stadt jedoch keinen Spaß machen würde. Allerdings lässt der Gestank nach einiger Zeit nach. Wir bleiben also hier.

Die Jungfrau Maria

Wir fahren mit einer Standseilbahn auf den Cerro San Cristóbal, das ist ein Berg mit einer riesigen Jungfrau-Maria-Statue oben drauf. Unter dieser Statue läuft Kirchenmusik aus Lautsprechern, um die Ecke befindet sich eine Statue von Papst Johannes Paul II, also alles ziemlich schräg hier.

Wir möchten einen kurzen Spaziergang den Berg hinunter machen, kurz vorallem deshalb, weil es mir alles andere als gut geht. Mala Caña eben.
Dieses Vorhaben endet jedoch damit, dass wir stundenlang schmale Waldwege entlanglaufen, ohne eine wirkliche Ahnung zu haben, wie wir da jemals wieder herauskommen.

Im Hintergrund der Natur um uns herum haben wir immer wieder die Millionenstadt unter uns im Bild. Sehr beeindruckend. Wir sind die meiste Zeit komplett alleine hier im Grünen, ein schöner Kontrast zu der Hektik in der Stadt unter uns.

Nach ein paar Stunden gelingt es uns aber dann doch, wieder in ebendiese hektische Stadt zurückzufinden.

Kuchen

In Chile wird für Kuchen nicht das entsprechende spanische Wort verwendet, sondern: Kuchen.

Und in der Mehrzahl werden dann Kuchenes daraus. Manchmal auch in der Schreibweise Kujen beziehungsweise Kujenes, damit die Aussprache stimmt, schließlich entspricht unser „ch“ dem spanischen „j.“

Jedenfalls haben wir gestern bei einem Stadtrundgang die quietschebunten Kuchen der Konditoreien bestaunt und dabei eine Konditorei entdeckt, die eine Schwarzwälder Kirschtorte im Angebot hat. Und die wollen wir heute Abend zu unseren Piscola-Freunden mitbringen, also suchen wir nun diese Konditorei. Und finden sie nach einiger Zeit auch. Wir kennen uns also schon ziemlich gut aus in dieser Millionenstadt ;)

Die Verspätung

Natürlich haben wir nicht vor, pünktlich zu unserer Verabredung zu erscheinen. Schließlich sind wir in Südamerika und nicht in Deutschland.
Also klingeln wir erst eine gute halbe Stunde nach der vereinbarten Zeit an der Haustür. Aber niemand macht auf. Auch über WhatsApp erreiche ich niemanden. Also so was. Müssen wir unsere Schwarzwälder Kirschtorte nun alleine essen?

Einige Zeit später probieren wir es dann nochmal. Und tatsächlich, dieses Mal wird unser Klingeln gehört.
Unser Fehler wird uns einige Zeit später klar: Die halbe Stunde Verspätung war viel zu pünktlich, unsere Gastgeber haben noch ihre Siesta gehalten. Zwei Stunden Verspätung wären eher angebracht gewesen, mindestens. Dieses unterschiedliche Zeitverständnis wird im Laufe des Abends einige Male Anlass für humorvolle Anspielungen sein.

Ceviche

Es wird ein sehr lustiger Abend. Nicht nur unsere Fußballfreunde von gestern sind da, auch deren Frauen und ein paar ihrer Freunde.

Zum Essen gibt es mehrere Varianten von Ceviche, das ist ein Gericht aus rohem Fisch, das aber gar nicht nach Fisch schmeckt, sondern einfach nur nach Frische. Limetten, Chilis, Kräuter, keine Ahnung, was da so alles drin ist. Sehr lecker jedenfalls.

Nur unsere Schwarzwälder Kirschtorte überzeugt mich nicht so richtig. Irgendwie fehlt bei ihr alles, was eigentlich in eine Schwarzwälder Kirschtorte gehört. Stattdessen schmeckt sie so, wie ich mir vorstelle, dass die bunten Torten aus den Schaufenstern schmecken.

Der Hügel

Am nächsten Tag brauchen wir einige Zeit zur Regeneration, schließlich gab es, nicht ganz unerwartet, wieder jede Menge Piscola. Unser anderem.

Wir verlängern unseren Aufenthalt in Santiago, einerseits zur Erholung, anderseits wollen wir morgen noch einen kleinen Ausflug zusammen mit unseren Piscola-Freunden machen. Aus dem Ausflug wird dann aber nichts, wodurch wir noch ein wenig Zeit für Stadtbesichtigungen gewonnen haben.

Und auch für die Planung unseres nächsten Reiseziels. Was wirklich gut ist, schließlich sollte man irgendwann wissen, wohin man eigentlich als nächstes will.

Nachdem wir nur einen Plan haben, wollen wir auch schon mal unsere Bustickets kaufen. Wir fahren mit der Metro zum Busterminal San Berja, eines der vier Busterminals hier und vermutlich das lauteste und hektischte. Von der Metro-Station aus muss man zum Zentralbahnhof, an einem Kinderkarussel vorbei und dann durch eine riesige Mall mit Hunderten an Geschäften, bis man schließlich an dem Busterminal mit seinen unzähligen Ticketverkaufsbuden ankommt. Wer es noch nie erlebt hat, kann sich vermutlich kaum vorstellen, wie es auf so einem Busterminal zugeht. Wir versuchen, uns erstmal einen Überblick zu verschaffen, wo es Tickets zu welchen Zielen gibt, und nachdem wir das mehr oder weniger geschafft haben, erkundigen wir uns nach den jeweiligen Angeboten. Man kann durchaus mehrere Stunden damit verbringen, seine Busfahrten zu organisieren.

Zurück in der Stadt gehen wir zum Cerro Santa Lucía, einem grünen Hügel mitten im Zentrum, wo man sich in den Schatten setzen und so auf sehr entspannte Art den Nachmittag verbringen kann. Hier waren wir schon an unserem ersten Tag, kurz nach unserer Ankunft in Santiago, und es ist einer unserer Lieblingsorte in dieser Stadt geworden. Von oben hat man einen tollen Blick über die Häuser bis hin zu den Bergen der Anden, und unten gibt es entlang der Straße unzählige Cafés und Bars.

Boss und Armani

Am nächsten Tag fahren wir mit der Metro in ein Hochhaus-Viertel Santiagos und bestaunen dort eine riesige, moderne Mall, in der es Läden aller erdenklichen Marken gibt, wirklich aller, von H&M und Zara über Adidas und Puma zu Armani und Boss, sogar einen Lego-Shop gibt es hier, dazu natürlich alle nordamerikanischen Marken. Wie in einer anderen Welt, mit Südamerika, wie ich es bisher kennengelernt habe, hat das hier nichts zu tun.

Später holen wir bei einem Thai-Imbiss unser Abendessen und genießen dieses inmitten einer achtspurigen Straße, auf einer Verkehrsinsel mit einem kleinen Brunnen darauf, unter den letzten in die Stadt eindringenden Sonnenstrahlen. Sehr idyllisch. Wirklich.

Und dann holen wir unser Gepäck ab und fahren mit der Metro zu unserem Lieblingsbusterminal San Berja, wo unser vorgebuchter Nachtbus schon auf uns wartet. Auf Wiedersehen, Santiago de Chile.

Land:Chile
Ort:Santiago
Reisedatum:06.03.2015 - 09.03.2015
Autor:Manuel Sterk
Veröffentlicht:13.10.2018
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