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Chile
Santiago

Paris oder Santiago?

Lesedauer: ca. 8 Minuten

Eintönigkeit kann man der chilenischen Hauptstadt Santiago nun wahrlich nicht vorwerfen. Aber vielleicht sind wir ja gar nicht hier, sondern in Paris? Oder in einer kleinen Provinzstadt? Oder in einer Stadt der Toten?

Paris

Wir sind gerade von Paris nach Santiago de Chile geflogen, und hier befindet sich nun direkt in der Nähe unseres angemieteten Apartments eine Straße mit den Namen Paris. Zufall?

Vielleicht haben wir das mit dem langen Flug aber auch nur geträumt? Irgendwie sieht es hier tatsächlich eher nach Paris aus als nach Santiago de Chile.

Wir werden sehen. Am nächsten Morgen starten wir eine kleine Sightseeing-Tour.

Yungay

Der Stadtteil Yungay ist ein historischer Stadtteil, keine riesigen Hochhäuser und Bürogebäude prägen das Bild, sondern kleine Stadthäuser. Auch der ansonsten in Santiago omnipräsente höllische Straßenlärm fehlt hier. Es wirkt so, als hätten wir Santiago verlassen und wären in einer kleinen Provinzstadt gelandet. Dabei sind wir nur zwei bis drei Kilometer zu Fuß gegangen.

Wir stehen vor einem Friseursalon, dessen Einrichtung aus einer anderen Zeit und einem anderen Kontinent zu stammen scheint. Vielleicht aus Frankreich? Paris? Und tatsächlich, Peluquería Francesa steht über der Tür.

Zahlreiche Häuser sind hier mit Streetart verziert, die uns allerdings nicht so begeistert wie in manch anderen südamerikanischen Städten. Obwohl, als wir gerade das Viertel verlassen wollen, entdecken wir ein wirklich faszinierendes Bild einer Frau, die uns mit ihrem Blick zu verfolgen scheint.

Ein Chilene fragt uns nach dem Weg zur nächsten Metro-Station. Sehen wir so aus, als ob wir uns hier auskennen? Aber tatsächlich konnte ich ihm weiterhelfen.

Friedhöfe

Unser nächster Sightseeing-Spot mag möglicherweise etwas eigenartig wirken: Wir fahren zu den Friedhöfen.

Die Friedhöfe verfügen über eine eigene Metro-Station, Cementerios, also auf deutsch: Friedhöfe. Kein Wunder, handelt es sich hierbei doch um einen Stadtteil für sich.

Die Gräber wirken wie Miniaturhäuser. Sie stehen entlang von breiten Straßen, wie ganz normale Häuser. Und tatsächlich fahren hier die Leute mit ihren Autos zu den Gräbern.

Nicht nur die lebenden Einwohner Santiagos wohnen überwiegend in riesigen Gebäudekomplexen mit einer jeweils kaum vorstellbaren Anzahl an Wohneinheiten, sondern diese Wohnform wird auch nach dem Tod beibehalten. Mehrstöckige Häuser bieten Platz für Hunderte an Toten. Über Treppenhäuser gelangt man zu den einzelnen Stockwerken, lediglich einen Aufzug haben wir hier nicht gesehen.

Immer wieder finden wir deutsche Namen an den Häusern, perdón, an den Gräbern. Ich wusste gar nicht, dass in Chile so viele Menschen deutsche Vorfahren haben.

Mittagessen

Irgendwann verlassen wir diese Stadt der Toten und fahren mit der Metro zurück in das deutlich lebendigere Zentrum Santiagos.

Wir kommen an Wahrsager-Zelten vorbei, an Treffpunkten für häkelnde Frauen und schachspielende Männer, und dann kommen wir in der Nähe des zentralen Platzes Santiagos an, dem Plaza de Armas.

Hier möchten anscheinend alle das gleiche machen wie wir, nämlich zu Mittag essen. In dem kleinen Restaurant, das wir gestern entdeckt haben, müssen wir einige Zeit warten, bis ein Tisch für uns frei wird. Zum Sitzen gibt es nur Hocker ohne Lehne, aber ich habe Glück, ich sitze direkt an der Glasfront und kann mich somit anlehnen. Zumindest könnte ich das eigentlich. Denn kurz bevor ich das mache, werde ich darauf hingewiesen, dass das keine gute Idee ist, denn die Scheibe ist bereits gesprungen. Oha, tatsächlich, habe ich gar nicht gesehen.

In einer, sagen wir einmal: typisch südamerikanischen Atmosphäre bekommen wir ein erstaunlich gutes Essen zu einem für chilenische Verhältnisse günstigen Preis. Das Warten hat sich also definitiv gelohnt.

Sauerei

Danach gehen wir zurück zu unserem Apartment, um uns ein wenig auszuruhen. Eigentlich sollte das Apartment täglich gereinigt werden, wurde uns zugesagt, aber das einzige, was passiert ist, ist, dass unsere Handtücher verschwunden sind. Dafür entdeckt Nadine ein gebrauchtes Kondom von unseren Vormietern. Oder wie lange das auch immer schon da herum liegt. Das mit der Reinigung scheint man hier also offensichtlich nicht allzu ernst zu nehmen. Nachdem sich Nadine bei unserem Vermieter beschwert, verspricht man uns, sich um alles zu kümmern.

Das höchste Gebäude Lateinamerikas

Als wir später noch ein wenig durch die Straßen spazieren, sehen wir in einiger Entfernung den Torre Costanera Center, mit dreihundert Metern das höchste Gebäude Lateinamerikas. Das wollen wir uns ansehen, entschließen wir uns, und fahren mit der Metro dorthin.

Und dann stellen wir fest, dass wir vor dreieinhalb Jahren schon einmal hier waren: In dem Gebäude um den Turm herum befindet sich eine überdimensionierte Mall, in der es Läden aller europäischer und nordamerikanischer Marken gibt. Sind wir wirklich in Südamerika? Auch damals habe ich daran gezweifelt.

Im Gegensatz zu unserem letzten Mal hier ist der Turm mittlerweile fertiggestellt. Wir können für ein happiges Entgelt von umgerechnet knapp zwanzig Euro pro Person mit einem Aufzug zu der Aussichtsplattform in den obersten beiden Stockwerken fahren.

Dort oben angekommen habe ich anfangs ein wenig mit meiner Höhenangst zu kämpfen, aber nach einiger Zeit kann ich den Ausblick über die riesige Stadt und zu den Bergen ringsherum genießen. Wirklich fantastisch.

Als wir dann am Abend wieder zurück in unserem Apartment sind, das sich im 24. Stock eines Wohnkomplexes befindet, kommt es mir gar nicht mehr so hoch vor wie noch gestern. Trotzdem, der Blick nachts vom Bett aus auf das Lichtermeer Santiagos ist atemberaubend. Allerdings auch der infernalische Verkehrslärm von unten.

Land:Chile
Ort:Santiago
Reisedatum:26.11.2018 - 27.11.2018
Autor:Manuel Sterk
Veröffentlicht:28.11.2018
Leser bisher:138

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Katharina
Danke für den tollen Beitrag. Fliege im Februar auch nach Chile :). LG Katharina
Oliver
Wieder Klasse geschrieben... Danke!
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Lesen...(Lesedauer ca. 26 Minuten)