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Chile
San Pedro de Atacama - Calama - Stuttgart

Der Reiseabbruch

Lesedauer: ca. 26 Minuten

Halbzeit: Von unserer sechsmonatigen Südamerika-Reise liegen noch drei Monate vor uns. Doch dann ist plötzlich mein nächstes Ziel nicht wie geplant die weltgrößte Salzwüste, die Salar de Uyuni in Bolivien, sondern der Operationssaal eines Stuttgarter Krankenhauses. Aber bis ich dorthin komme, darf ich einige Erfahrungen mit dem chilenischen Gesundheitssystem sammeln.

Prolog

Genau genommen beginnt diese Geschichte schon eine knappe Woche früher, nämlich zu dem Zeitpunkt, an dem wir in San Pedro de Atacama ankommen. Achtzehn Stunden Busfahrt liegen hinter uns, und als ich aus dem Bus steige, schmerzt mich mein Rücken. Kein Wunder, denke ich, nach achtzehn Stunden in diesen alles andere als komfortablen Bussen darf durchaus mal irgendetwas weh tun, und somit mache ich mir keine weiteren Gedanken.

Wir fahren mit dem Fahrrad durch das Tal des Todes, wir baden in einer Lagune, in der man wie im Toten Meer vom Wasser getragen wird und nicht untergehen kann, wir sehen Flamingos und poppende Lamas, wir gehen durch den Dampf von Geysiren und können uns danach auf über viertausend Höhenmetern in einem vulkanischen Thermalbecken aufwärmen, und wir dürfen Landschaften betrachten, von denen man unmöglich glauben kann, dass sie Wirklichkeit sind.

Alles sehr faszinierend, ohne Zweifel, und somit auch Stoff genug für eine Reiseerzählung hierüber, aber mein Rücken hat sich dadurch nicht beeindrucken lassen: die Schmerzen sind geblieben. Und wurden immer schlimmer.

Die Reiseplanung

Heute Nacht waren die Schmerzen so heftig, dass ich kaum schlafen konnte. Nadine gibt mir aus ihrer Arzneimittel-Wundertüte ein paar Schmerzmittel, aber die helfen kaum.

Trotzdem, Schmerzen hin oder her, wir sollten langsam unsere Weiterreise planen. Aber bevor wir das machen, möchten wir unser Gepäck reduzieren. Schließlich liegen noch drei Monate Reise vor uns, denken wir zumindest, und da wollen wir nichts Überflüssiges mit uns herumschleppen. Also packen wir alles in ein Paket und gehen damit zur Post - aber das ist eine andere Geschichte.

Als nächstes erkundigen wir uns bei mehreren Anbietern nach Touren von San Pedro über die bolivianische Salzwüste nach Uyuni, unser Weg aus Chile heraus.
Uns erwartet eine dreitägige Tour in einem Jeep, in eisiger Kälte, mit der ersten Übernachtung in einer Unterkunft ohne Dusche. Na dann. Dafür soll die Salzwüste und die zahlreichen Lagunen auf dem Weg so faszinierend sein, dass man dafür ein paar Unannehmlichkeiten gerne in Kauf nimmt. Und die zweite Übernachtung wird in einem Hotel sein, das aus Salz gebaut ist. Ich bin gespannt.

Die Wunderheilung

Auf dem Weg zurück zum Hostal rutsche ich aus und kann mich gerade noch halten. Autsch. Ein stechender Schmerz im Rücken. Und plötzlich kann ich mich wieder besser bewegen. Ein Wunder.

Das denke ich zumindest in diesem Moment. Aber da habe ich mich getäuscht.

Schmerzen

Später fangen meine Rückenschmerzen wieder an, und sie werden die nächsten Tage immer schlimmer. Wir versuchen, unsere gebuchte Tour nach Uyuni zu verschieben, was erstaunlicherweise problemlos klappt.

Bewegung ist eigentlich das Beste bei Rückenschmerzen, so meine Erfahrung, also leihen wir uns am nächsten Tag nochmal Fahrräder aus und fahren wieder in das nahegelegene Valle de la Muerte, das Tal des Todes. In der Hoffnung, dabei nicht auf allzu direkte Art und Weise zu erfahren, warum dieses Tal so heißt.

Allerdings war das Fahrradfahren wohl doch nicht die beste Idee. Ich habe nun derartige Schmerzen, dass es kaum auszuhalten ist. Der Rücken ist dabei nur ein Problem, das viel größere ist mein rechtes Bein: Ich kann meinen Fuß kaum noch bewegen, das ganze Bein tut höllisch weg, ich kann nicht mehr gehen. Am Abend im Restaurant muss ich das Essen abbrechen und ins Hostal zurück, mich ins Bett legen.

Keine Salzwüste

Ein paar Tage später. Wir haben die Tour nach Uyuni nun schon mehrfach verschoben. Genauer gesagt haben nicht wir das gemacht, sondern nur Nadine, denn ich kann mich so gut wie gar nicht mehr bewegen.

Und irgendwann müssen wir einsehen: Das mit meinem Rücken und meinem mittlerweile kaputten Bein ist keine kurzfristige Sache, die sich in ein paar Tagen erledigt haben wird.

Nadine bittet die Mitarbeiterin der Agentur, unsere gebuchte Tour nach Uyuni zu stornieren. Und damit haben wir nun wirklich nicht gerechnet: Wir bekommen das gesamte Geld zurück. Nadine bedankt sich anschließend mit einem Blumenstrauß - und mit dem Versprechen, dass wir, sollten wir jemals in unserem Leben nochmals hierher kommen, die Tour erneut bei ihr buchen werden.

Und tatsächlich, ein paar Jahre später werden wir ganz San Pedro durchkämmen, um sie dann in einem Büro einer ganz anderen Agentur wiederzufinden. Und wir werden, wie versprochen, die Tour nach Uyuni erneut bei ihr buchen.

Unwetter

Jedenfalls, diese Tour hätte sowieso nicht stattgefunden, erfahren wir am nächsten Tag: Wegen Unwetter.

Die heftigsten Regenfälle seit rund achtzig Jahren in der Atacama-Region. Mehrere Menschen kommen uns Leben. In manchen Ortschaften müssen die Einwohner mit Hubschraubern gerettet werden. Die Fluten setzen Ortschaften unter Wasser, reißen Häuser fort und lösen Erdrutsche aus. Tausende Einwohner sind von der Außenwelt abgeschnitten oder fliehen vor den Fluten in Notunterkünfte. Vielerorts sind Strom, Telefon und die Wasserversorgung ausgefallen.

Später lese ich: Supermärkte verdreifachen die Preise für Trinkwasser, die Regierung verhängt Ausgangssperren, um Plünderungen zu verhindern. Das Nachbarland Bolivien bietet Chile Hilfe an, die aber abgelehnt wird, schließlich ist das politische Klima zwischen den beiden Ländern angespannt, und da kann man natürlich keine Hilfe annehmen.

Aber hier, in dem kleinen Touristenörtchen San Pedro de Atacama, ist alles ruhig. Es hat lediglich ein bisschen arg viel Wasser auf den Straßen. Und in unserem Hostal. Aber aus einer aus den Angeln gerissenen Tür entsteht ein Steg, so dass wir trotzdem trockenen Fußes aus unserem Zimmer kommen.

Bandscheibenvorfall

Hier sitzen wir also fest. Und ich habe einen Bandscheibenvorfall, das ist Nadines Diagnose. Ein Teil meiner Bandscheibe befindet sich demzufolge nun irgendwo an einer Stelle in meinem Rücken, wo so etwas nicht hingehört. Und drückt ganz offensichtlich auf den Nerv, der für mein rechtes Bein zuständig ist, denn das ist mittlerweile teilweise gelähmt. Gar nicht gut.

Nadine telefoniert mit meiner Krankenkasse und schafft es nach einiger Zeit und Mühe, dass für mich ein Krankenwagen organisiert wird, um mich in die nächste Stadt zu bringen, nach Calama, wo es ein Krankenhaus gibt.

Was dann am nächsten Morgen ankommt, ist aber ein ganz normales Auto. Ich kann aber keine zehn Minuten sitzen, also erst recht keine eineinhalb Stunden sitzend über holprige Straßen fahren.

Erneute Telefonate mit der Krankenkasse, oder genauer: mit einem von der Krankenkasse beauftragten Dienstleister in Reutlingen.
Einen richtigen Krankenwagen gibt es hier nicht, erfährt Nadine, es würde also keine andere Möglichkeit geben, als mich mit einem Helikopter zu transportieren, sagt man uns.
Wir wenden ein, dass das sicher nicht funktionieren wird, schließlich haben aufgrund der verheerenden Unwetter die Helikopter in der Gegend, sofern es überhaupt welche gibt, zur Zeit anderes zu tun, als irgendwelche Touristen durch die Gegend zu fliegen. Aber dieser Einwand wird ignoriert. Wir sollen uns gedulden, man wird sich um alles kümmern und sich wieder melden.

Die Untersuchung

Unterdessen bekommen wir die Information, dass gleich ein Krankenwagen kommen und mich ins „Hospital“ von San Pedro bringen würde. Was auch immer unter dem Wort „Hospital“ zu verstehen ist, denn ein richtiges Krankenhaus, was dieses Wort eigentlich bedeutet, wird es hier wohl kaum geben. Und gibt es hier nun doch einen Krankenwagen?

Jedenfalls werde ich nun in diesem angeblichen Krankenhaus untersucht. Ich bin hier die Attraktion, die komplette medizinische Belegschaft inklusive Studenten ist dabei. Also drei Personen.

Als Ergebnis kommt das heraus, was Nadine bereits diagnostiziert hat. Was nicht weiter verwunderlich ist, da Nadine ihre Diagnose bereits im Vorfeld mit der Ärztin besprochen hat.

Die Ärztin fragt, was sie nun eigentlich für uns tun kann. Allgemeine Verwirrung. Nach einem Telefonat mit dem Krankenkassen-Dienstleister stellt sich heraus, dass dieser die Untersuchung hier gar nicht initiiert hat. Wer dann? Vielleicht der chilenische Dienstleister, der meinen Transport organisieren sollte? Wir werden es nicht mehr herausfinden.

Wie dem auch sei, jedenfalls sollen wir auf Informationen bezüglich des Helikopters warten, das kann aber noch dauern, teilt man uns aus Reutlingen mit. Also warten wir.

Und dann werden wir aufgefordert, nun bitte endlich das Krankenhaus zu verlassen, vorher aber in jeden Fall noch die Rechnung zu bezahlen. Das mit dem Helikopter würde eh nicht klappen, weil es gar keinen Helikopter gibt und dieser hier auch nicht landen könne, sagt man uns, also sollten wir bitte gehen.

So funktioniert das hier also: Ein Arzt in einem Krankenhaus untersucht einen Patienten, stellt fest, dass in diesem Krankenhaus die jeweilige Krankheit oder Verletzung nicht behandelt werden kann - und sagt dann zu dem Patienten, der nicht gehen kann: schauen Sie bitte selbst, wie Sie in ein geeignetes Krankenhaus kommen, und jetzt verlassen Sie bitte unser Haus.

Die Pillen

Es gibt immer noch keine Informationen bezüglich des Helikopters, also kümmern wir uns um ein Zimmer für heute Nacht. Praktischerweise ist unser bisheriges Zimmer noch frei, auch wenn das Hostal ansonsten ganz schön voll geworden ist.

Ich schaffe es gerade so, unter immensen Schmerzen vom Krankenhaus zurück zum Hostal zu gehen. Geschätzte fünfhundert Meter. Ich könnte vor Schmerzen schreien.
Auf halber Strecke lege ich mich kurz auf eine Bank. Ein Chilene kommt vorbei, sieht mich leiden und bietet mir irgendwelche Pillen an. Die ich aber dann doch ablehne. Trotzdem vielen Dank.

Der deutsche Chilene

Vielleicht liegt es am Wein, vielleicht ist es ein Nebeneffekt der etwas ruppigen Untersuchungsmethode des Studenten vorhin, vielleicht wirken auch langsam Nadines Schmerzmittel, jedenfalls kann ich heute Abend zum ersten Mal wieder sitzen.

Bezüglich des Helikopters gibt es immer noch nichts Neues. Auch am nächsten Tag nicht. Also wollen wir meine neu gewonnenen Fähigkeiten, nämlich zumindest für kurze Zeit sitzen zu können, ausnutzen. Und nun doch versuchen, mit einem Auto nach Calama zu fahren.

Unzählige Telefonate später werden wir abgeholt. Von einem Fahrer, der fließend deutsch spricht. Wenn auch mit einem lustigen Akzent.
Seine Vorfahren stammen aus Deutschland, erfahren wir. Offensichtlich hat sich das hier gesprochene Deutsch anders weiterentwickelt als das bei uns, daher klingt sein Deutsch in unseren Ohren ziemlich eigenartig.

Das Fünfsternehotel

Nun liege ich in der Badewanne in einem Fünfsternehotel in Calama. Wir haben ein Zimmer, das etwa dreimal so groß ist wie die meisten unserer bisherigen Zimmer dieser Reise. Mindestens. Und es hat ein riesiges Bett. Mit einer guten Matratze. Und es gibt eine Heizung. Und eine Badezimmertüre, die man auf und zu machen kann, weil sie über zwei funktionierende Scharniere verfügt und zudem in den Rahmen passt. Und die Decke ist einfach nur weiß, ohne tausend totgeschlagene Mücken und Abdrücke von Schuhen. Und es gibt einen Stuhl und einen Tisch. Und und und. Wir freuen uns riesig über diesen Luxus, wie wenn wir ihn das erste Mal in unserem Leben erleben würden.

Dass hier einiges bei weitem nicht dem entspricht, was man eigentlich von einem Fünfsternehotel erwarten würde, das tut unserer Freude keinen Abbruch.

Urlaub würde ich in so einem Hotel niemals machen wollen, aber im Moment sind die Prioritäten andere: Nicht frieren. Eine Badewanne. Eine Dusche, aus der kontinuierlich Wasser kommt, mit einer regulierbaren Temperatur.

Nun sind wir also doch noch in Calama angekommen, der Stadt der Minenarbeiter. Und der Stadt, in der es Krankenhäuser gibt.

Das Krankenhaus

Im Krankenhaus kann man zunächst nichts mit mir anfangen, obwohl der Krankenkassen-Dienstleister zugesagt hat, dass ich hier angemeldet sein werde.
Aber nach einiger Zeit lässt sich alles klären.

Wir müssen nun im Voraus die Behandlung zu einem Standardsatz bezahlen, dann werden wir in den Behandlungsbereich gerufen. Das Krankenhaus macht einen Eindruck wie bei uns ein schon ziemlich in die Jahre gekommenes, dringend renovierungsbedürftiges Krankenhaus. Aber immerhin wie ein Krankenhaus.

Die wirklich freundliche Ärztin hier kommt bei ihrer Untersuchung zum gewohnten Ergebnis.
Man bräuchte nun eine Kernspintomographie, aber die ist erst wieder am Montag möglich, heute ist Samstag. Ich könnte nun für etwa eineinhalb Millionen Peso, das sind gut zweitausend Euro, bis dahin stationär im Krankenhaus bleiben, wo man mich mit Schmerzmitteln versorgen würde, oder ich könnte am Montag einfach wiederkommen.

Nun, zum einen hat Nadine bereits im Vorfeld das tolle Fünfsternehotel mit Sauna und Swimmingpool im Internet gefunden, zum anderen kann sie meine Schmerzmittelversorgung mindestens ebenso gut sicherstellen wie das Krankenhaus - also fällt die Entscheidung nicht allzu schwer.

Die Hoffnung

Den Sonntag verbringe ich überwiegend im und am Pool unseres Hotels. Im Wasser kann ich mich bewegen, ohne gravierende Schmerzen zu haben - traumhaft. Zudem ist es in der überwiegend gläsernen Schwimmbadhalle dank der darauf scheinenden Sonne extrem warm, auch das tut sehr gut.

Ich habe immer noch die Hoffnung, dass ich in kurzer Zeit wieder fit werde und wir unsere Südamerika-Reise fortsetzen können - auch wenn natürlich alles dagegen spricht: Sobald ich ein paar Meter gehen will oder mehr als zehn Minuten sitzen, dann wird der Schmerz unerträglich. Und ich kann meinen rechten Fuß nicht richtig bewegen. Und irgendwie auch nicht mehr richtig spüren. Das ist nicht gut.

Weite Entfernungen

Die Ärztin im Krankenhaus hat uns am Samstag mitgeteilt, wir sollen vierundzwanzig Stunden später zu einer kostenlosen Kontrolluntersuchung wiederkommen, also machen wir uns nun auf den Weg.

Und zwar mit einem Taxi, obwohl der Fußweg vermutlich keine zehn Minuten wäre. Aber so weit würde ich es niemals schaffen.
Immerhin: Da der typische Südamerikaner für eine solche Strecke ebenfalls ein Fahrzeug nehmen würde, fällt unser Taxi-Wunsch nicht als sonderbar auf. Im Gegenteil, die Rezeptionsmitarbeiterin im Hotel antwortet auf unsere Frage, ob das Krankenhaus in der Nähe sei: Nein, leider nicht, es ist schon recht weit entfernt.
Zehn Gehminuten.

Halbgott in Weiß

Dort im Krankenhaus angekommen weiß man mal wieder nichts. Eine kostenlose Kontrolluntersuchung? So etwas gibt es nicht.

Nach einer langwierigen Diskussion lässt man sich dann doch darauf ein.

Der Arzt diesmal ist nicht so freundlich wie seine Kollegin vom Vortag. Eigentlich alles andere als das. Und er stottert. Das schnellgesprochene genuschelte Spanisch der Chilenen ist sowieso eine Herausforderung für mich, und nun auch noch gestottert. Na dann.

Jedenfalls bitten wir ihn, den Bericht seiner Kollegin zu korrigieren, sie hat nämlich einen Großteil ihrer Befunde vergessen, wie wir später festgestellt haben. Das macht er dann auch, nachdem er mich oberflächlich untersucht hat.

Und dann haben wir noch eine Bitte: Die Blutprobe wegen der Kontrastmittelgabe für das Kernspin könnte man doch vielleicht gleich heute machen, dann könnten wir morgen viel Zeit sparen.

Aber das hätten wir besser bleiben lassen sollen: Eine Krankenschwester legt mir erstmal einen Zugang, oder wie dieses statisch angebrachte Spritzending auch immer heißen mag. Wozu das denn?

Das sollen wir gleich erfahren: Nadine bekommt nämlich eine Rechnung in die Hand gedrückt, die sie an der Kasse bezahlen soll. Glücklicherweise bohrt sie solange nach, für was diese Rechnung sein soll, bis sie eine Antwort bekommt: Für Schmerzmittel, die man mir jetzt spritzt.

Davon war aber nicht die Rede, sondern nur von Blutabnehmen. Schmerzmittel habe ich schon genug intus. Das spielt keine Rolle, teilt man uns mit, der Arzt hat es so angeordnet, und dann wird das auch so gemacht.

Kaum zu glauben, was für ein Kampf sich jetzt entwickelt, bis wir es letztendlich doch noch verhindern können, dass man mir die Schmerzmittel spritzt. Hier in Chile ist der Arzt offensichtlich noch der allmächtige Halbgott in Weiß, ein Widerspruch wird nicht geduldet, und die Meinung des Patienten spielt sowieso keine Rolle.

Mit den Schmerzmitteln wäre es lustig geworden: Obwohl wir bei unserem Gespräch den Arzt sogar darauf hingewiesen haben, dass ich ein bestimmtes Schmerzmittel nicht vertrage, war genau das in dem Cocktail enthalten. Als Nadine vor ein paar Tagen dieses Mittel bei mir ausprobiert hat, muss ich durchgedreht sein. Behauptet sie zumindest. So genau habe ich das irgendwie nicht mitbekommen, aber ich weiß noch, dass plötzlich lauter fremde Hände vor meinem Gesicht herumgefuchtelt haben. Die aber meine Hände waren. Jedenfalls hat dieser Trip definitiv keinen Spaß gemacht - und ein zweites Mal muss das wirklich nicht sein.

Die Kernspintomographie

Am nächsten Tag, endlich ist Montag, fahren wir wieder in das Krankenhaus: Die lang ersehnte Kernspin-Untersuchung wird heute stattfinden.

Im Krankenhaus wartet allerdings die nächste Überraschung auf uns: Entgegen der Aussage beider Ärzte, also der Ärztin von Samstag und dem Arzt vom Sonntag, wird eine Kernspintomographie nicht ohne Termin gemacht. Und außerdem wird sie nicht hier gemacht, sondern in einer anderen Klinik. Und außerdem dauert es zwei Tage, bis wir dann den Befund bekommen.

Also: Ab in die nächste Diskussionsrunde. Mein Spanischsprachkurs hat sich definitiv bezahlt gemacht, denn wer weiß, wie alles ausgegangen wäre, wenn ich gar nicht hätte diskutieren können.

Die Klinik unterbreitet mir nun den geschäftssinnigen Vorschlag, man könnte mich ja stationär aufnehmen, für viel Geld selbstredend, dann ginge es vielleicht etwas schneller. Nein, vielen Dank.

Zum Schluss dieser endlosen Diskussionen bin ich mit meinen Nerven am Ende, aber dafür haben wir einen Termin für heute Nachmittag, sechzehn Uhr, und die Zusage, dass wir den Befund noch heute bekommen, wir sollten das nur dem Arzt vor Ort nochmals mitteilen, zur Sicherheit, aber es wäre alles besprochen

Das Detail, dass es dort gar keinen Arzt gibt, wie wir später feststellen werden, das wird uns verschwiegen. Dafür dürfen wir gleich die Rechnung bezahlen, umgerechnet knapp vierhundert Euro.

Das nächste Problem haben wir dann am Nachmittag: Unser Taxifahrer findet die Klinik nicht, trotz Straßenskizze. Kein Wunder, handelt es sich doch um einen Neubau in Schuhschachtelbauweise, irgendwo hinter einem Parkplatz versteckt.

Allerdings ist diese Schuhschachtel leer. Leere Gänge, nirgends ein Mensch.
Irgendwann finden wir eine Putzfrau, und die gibt uns einen Tipp, an welcher Tür wir klopfen könnten.

Volltreffer, wir landen gleich bei dem Kernspin-Mann. Ein Kontrastmittel wird mir entgegen der Anordnung der Ärzte nicht gegeben, dafür geht es gleich los.

Ich stecke in dem krachmachenden Gerät, in der Hand habe ich einen Alarmknopf, den ich drücken kann, falls ich Panik bekommen sollte. Allerdings ist dieser Knopf wirkungslos, wie mir Nadine später erzählt, da der Kernspin-Mann unterdessen raus geht, um eine Zigarette zu rauchen.

Und anschließend zerstört er meinen Traum, dass alles vielleicht doch nur eine Kleinigkeit ist und schnell vorüber geht: Ich habe einen gewaltigen Bandscheibenvorfall, sagt er mir.

Leider können die Kernspin-Bilder nicht an den Arzt gesendet werden, da dies über das Internet passiert und das Internet im Moment nicht funktioniert, erklärt er uns später. Aber vielleicht kommt demnächst der IT-Mann, und dann könnte der Arzt sich die Bilder heute noch ansehen. Wir sollten dafür um neunzehn Uhr wieder in das Krankenhaus gehen, das uns hierher geschickt hat.

Den Weg um neunzehn Uhr macht Nadine dann alleine. Zu Fuß. Es sind übrigens nicht einmal zehn Minuten. Der Befund ist natürlich noch nicht fertig, aber Nadine weigert sich, zu gehen, solange sie den Befund nicht in ihren Händen hat. Und letztendlich bekommt sie ihn dann auch. Darin steht, genau genommen, nichts wirklich Neues für uns.

Nadine zeigt und erklärt mir die Bilder. Sogar ich als Laie kann erkennen, dass das nicht gut aussieht.

Nadine schickt den Befund an den Reutlinger Krankenkassen-Dienstleister. In der Hoffnung, dass dieser nun endlich meinen Transport nach Deutschland organisiert.

Weit gefehlt.

Zusätzlich schickt Nadine meine Kernspin-Bilder an den befreundeten Chefarzt der Unfallchirugie eines Stuttgarter Krankenhauses. Einige Zeit später bekommt sie eine Antwort mit seiner Empfehlung: Schnellstmöglich operieren.

Der Übersetzungsfehler

Wir rufen am nächsten Tag in Reutlingen an. Ich soll nun zustimmen, dass ich in die Hauptstadt Chiles geflogen werde, nach Santiago, damit man mich dort nochmals untersucht und dann behandelt, bekomme ich mitgeteilt.

Kaum zu glauben. Der Versicherung reicht also die Diagnose von mittlerweile fünf Ärzten nicht aus. Und sie möchte mich in Chile behandeln lassen. Oder sogar operieren. An der Wirbelsäule. Das ist alles keine gute Idee, ganz und gar nicht, denke ich.

Mir ist am Telefon irgendwann der Kragen geplatzt. Und immerhin erhalten wir daraufhin endlich einen Anruf der Ärztin, die meinen Fall medizinisch beurteilt.

Und siehe da: Sie kommt zu ihrer Beurteilung, weil ihr Übersetzungsprogramm den Befund falsch übersetzt hat. Wo im Befund steht, dass die Nervenwurzeln betroffen sind, hat sie gelesen, dass die Nervenwurzeln nicht betroffen sind. Zum Beispiel.

Die Idee

Es ist wirklich erschreckend, wie man von seiner Krankenversicherung im Stich gelassen wird, wenn man sie einmal braucht.
Meine Krankenversicherung beziehungsweise der von ihr beauftragte Dienstleister ist immer noch nicht bereit, mich nach Deutschland zu bringen. Also kümmern wir uns nun selber darum.

Mein Hauptproblem ist, dass ich nicht sitzen kann und somit einen derart langen Flug unmöglich überstehen würde. Aber: In der First Class des Flugzeugs gibt es Betten. Da müsste es gehen, hoffe ich.

Ein First-Class-Flug kostet ein Vermögen. Und ein kurzfristig gebuchter erst recht. Aber es ist trotzdem noch um ein Vielfaches billiger als alles andere, was die Krankenversicherung ansonsten hätte bezahlen müsste. Also fragen wir nach, ob die Krankenversicherung die Kosten für den Flug oder zumindest einen Teil davon übernehmen würde.
Der Reutlinger Dienstleister findet die Idee zwar gut, kann aber nicht entscheiden, das müsste die Versicherung machen. Der Auslands-Notruf der Versicherung kann ebenfalls nicht entscheiden, das müsste die Zentrale machen. Und dort ist jetzt niemand mehr erreichbar. Es ist schließlich schon halb fünf nachmittags in Deutschland. Hier in Chile ist es hingegen gerade mal Mittag, wir haben also einen weiteren Tag im Ungewissen vor uns.

Um drei Uhr nachts, dann beginnt in Deutschland um acht Uhr morgens der Arbeitstag, wird es in die nächste Runde gehen.

Economy Class

Nach endlosen Telefonaten erklärt sich die Krankenversicherung tatsächlich bereit, meinen Rückflug zumindest größtenteils zu bezahlen. Wobei der Flug auf eigene Gefahr stattfindet, darauf legt man Wert mir mitzuteilen. Sehr witzig. Auf wessen Gefahr wäre ich denn hier in Chile geblieben?

Wir machen uns auf den Weg zum Flughafen von Calama. Von dort müssen wir zunächst nach Santiago de Chile, dann weiter ins brasilianische São Paulo, von dort nach Frankfurt und dann zum Schluss noch mit dem Zug nach Stuttgart. Im wahrsten Sinne des Worts eine Weltreise.

Am Flughafen angekommen erwarten uns zwei Überraschungen:

Zum einen können wir an diesem nationalen Flughafen nicht für den internationalen Flug einchecken. Wir müssten also in Santiago unser Gepäck abholen und dann dort neu einchecken. Was aber unmöglich sein wird. Bei kaum mehr als einer Stunde Aufenthalt schaffe ich es mit viel Glück, vom einen zum anderen Gate zu kommen.
Nach längeren Diskussionen und dem Hinzuziehen zahlreicher weiterer Airline-Mitarbeiter sagt man uns zu, dass nun immerhin unser Gepäck direkt bis nach Frankfurt geht, wir müssten uns also nur um uns selbst und unsere jeweiligen Boardingpässe kümmern. Irgendwie glauben wir zwar nicht, dass das mit dem Gepäck wirklich funktionieren wird, aber andererseits ist es uns im Moment auch ziemlich egal, was mit unserem Gepäck passiert.

Die viel größere Überraschung ist aber die zweite: Die beiden Flüge nach Santiago und von dort nach São Paulo werden wir Economy fliegen. Und zwar deshalb, weil es gar nichts anderes gibt. Oh nein.

Wie und in welchem Zustand ich diese beiden Flüge überstanden habe, das habe ich verdrängt.

First Class

Von São Paulo nach Frankfurt hätte ich nun die Chance, den ersten und vermutlich auch gleichzeitig letzten First-Class-Flug meines Lebens zu genießen. Wenn ich ihn denn genießen hätte können. Denn mir geht es einfach nur schlecht. Ich habe Schmerzen. Mir ist übel.
Das ganze Brimborium und Getue mit dem dauernd präsenten Service, dem Kaviar, dem Champagner, das alles ginge mir vermutlich auch im gesunden Zustand ziemlich auf den Keks. Aber in meinem jetzigen Zustand erst recht. Lasst mich bitte alle einfach in Ruhe!

Schade. Denn eigentlich ist diese First Class wirklich beeindruckend. Ein riesiger Bereich des Flugzeugs, dort weitläufig verteilt nur acht Plätze, davon sind sechs belegt. Eine kleine Bar gibt es, zwei Toiletten nur für uns sechs Passagiere, es gibt neben Champagner erstklassigen Rotwein, ein mehrgängiges Menü - und so weiter. Auf Wunsch wird der Sitz in ein breites Bett verwandelt, mit richtiger Bettwäsche, Kissen und allem, was dazugehört.

Der Steward, der die First Class betreut, war früher Arzt, genauer gesagt Anästhesist. Eine interessante Karriere. Und eine Stewardess der Business Class war früher Intensivschwester. Im Notfall wäre ich also bestens medizinisch versorgt.

Als wir nach diesem langen Flug in Frankfurt ankommen, können wir kaum glauben, was uns dort erwartet: Nadine geht zum Gepäckband - und die ersten beiden Gepäckstücke, die dort auftauchen, sind unsere.

Stuttgart

Was würden wir nur ohne unser Nachbarn machen! Die Wohnung ist geputzt, alle Geräte in Gang gesetzt, der Kühlschrank gefüllt, es wurde für uns gekocht, an der Wohnungstür hängt ein „Herzlich willkommen“. Von allen, die wir sehen, werden wir herzlich begrüßt.

Aber wir bleiben nur kurz zuhause. Noch von Chile aus hat Nadine mit dem Katharinenhospital in Stuttgart telefoniert und vereinbart, dass wir sofort vorbeikommen sollen, trotz Osterwochenende und obwohl Samstag ist. Also machen wir das.

Nach der Untersuchung und der Begutachtung meiner chilenischen Kernspin-Bilder bittet mich der Arzt, kurz zu warten, er möchte das mit seinem Oberarzt abstimmen. Eine Viertelstunde später kommt er zurück: Also, man würde mich noch heute operieren, gegen fünfzehn Uhr.

Das geht jetzt vielleicht ein bisschen zu schnell, denke ich.

Als ich nach der Operation aufwache, ist ein Wunder geschehen: Die Höllenschmerzen sind weg, ich kann problemlos gehen und stehen.
Dass ich weiterhin meinen rechten Fuß kaum bewegen kann: egal.

Das Paket

Die Sonne scheint, es ist angenehm warm, überall blüht und grünt es, die Vögel zwitschern, der Frühling ist mit voller Wucht in Stuttgart angekommen.

Als wir gerade aus dem Haus gehen wollen, kommt uns ein Paketlieferant entgegen. In der Hand hat er ein rotes „Correos Chile“-Paket.

Epilog

Von unserem Sabbatical ist nun noch etwa ein Monat übrig. Also machen wir uns wieder auf den Weg, zwar nicht zurück nach Südamerika, aber nach Spanien, genauer gesagt: nach Andalusien.

Wir fahren in unserem Mietwagen zu unserem ersten Ziel. Nadine sitzt am Steuer. Aber dann wird sie so müde, dass sie nicht mehr weiter fahren kann, ich muss also übernehmen.

Oha.

Zwar habe ich in der Reha gelernt, trotz meines Fußes, den ich immer noch nicht richtig heben kann, wieder einigermaßen normal zu gehen. Aber nicht Auto zu fahren. Mal sehen, was passiert. Vielleicht gebe ich ja plötzlich Dauergas, weil mein Fuß nicht mehr vom Pedal wegkommt. Das wird lustig.

Land:Chile
Ort:San Pedro de Atacama - Calama - Stuttgart
Reisedatum:21.03.2015 - 02.04.2015
Autor:Manuel Sterk
Veröffentlicht:22.11.2018
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