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Panama
Calovébora

Anstarren oder Ignorieren

Lesedauer: ca. 12 Minuten

Im Reiseführer lesen wir, dass von Santa Fé ausgehend eine Straße gebaut wird, welche Zugang zu einigen der abgelegendsten Siedlungen Panamas bringen soll.
Vor Ort erfahren wir dann, dass diese Straße bereits fertiggestellt ist, nach vierzehn Jahren Bauzeit. Sie führt bis zu dem Ort Calovébora an der Karibikküste. Auch Minibusse verkehren regelmäßig auf dieser neuen Straße.

Also lassen wir unsere Rucksäcke auf das Dach eines solchen Minibusses packen und steigen ein.

Der Bus füllt sich schnell. Zahlreiche Bewohner der Siedlungen entlang der Strecke waren heute in Santa Fé, um Einkäufe zu erledigen. Das Dach ist am Ende vollgepackt mit Einkaufstaschen und Reissäcken.

Offensichtlich gab es heute in Santa Fé auch Hunde zu kaufen: Aus zahlreichen Taschen, die unsere Mitreisenden im Bus dabei haben, schauen kleine Welpen heraus.

Der Bus quält sich in Kurven die Berge hinauf und hinunter, die meiste Zeit hat der Fahrer den ersten Gang eingelegt. Die Reisegeschwindigkeit kann man sich also gut vorstellen. Dazu läuft lateinamerikanische Musik, der Lautstärkeregler ist kurz vor dem Anschlag. Draußen zieht gemächlich dichter tropischer Regenwald an uns vorbei.

Uns wundert, dass wir anscheinend die einzigen Touristen sind, die ein solches authentisches Reiseerlebnis genießen möchten: Wir sind auf unserem bisherigen Weg durch Panama bereits in unzähligen vergleichbaren Minubussen unterwegs gewesen und kein einziges Mal saß außer uns auch nur ein einziger weiterer ausländischer Tourist mit im Bus.

Umsteigen

Nach etwa einer Stunde erreichen wir Guabal. Hier musste man vermutlich bis vor einiger Zeit in Boote umsteigen, die über den Rio Calovébora gefahren sind. Dank der neuen Straße müssen wir aber nun nur in einen anderen Minibus umsteigen.

Der Fahrer dieses Minibusses schaut sich auf dem im Bus integrierten Bildschirm einen Mafiafilm an, während er uns Richtung karibisches Meer fährt.

Nach und nach steigen unsere Mitreisenden aus. Eine Familie klettert mit ihrem mitgebrachten Gepäck einen Berghang hinunter, das eine Kind hat Stofftaschen mit Welpen in der Hand, das andere einen riesigen Reissack auf dem Rücken.

Regelmäßig steigen neue Fahrgäste ein, die aus den abseits der Straße angebrachten Unterständen auftauchen.

Zumindest steigen sie ein, wenn sie Glück haben. Denn oftmals ist der Bus bereits so voll, dass auch zusammengequetscht niemand mehr hinein passt, und dann müssen sie auf den nächsten Bus warten, der vielleicht in einer Stunde kommt und dann hoffentlich Platz für sie hat.

Immer wieder sehen wir schwerbepackte Menschen die Straße entlang gehen, in der brütenden Mittagshitze. Schulkinder in ihren Uniformen kämpfen sich einen Berg hinauf.

Plötzlich hören wir einen Schlag.
Der Bus hält an.

Gepäck hat sich vom Dach gelöst, ist auf die Straße gefallen und hat sich in der Gegend verteilt.
Das wird nun alles wieder eingesammelt. Nadine klaubt noch ein paar Maiskolben von der Straße und gibt sie weiter zum Verpacken, dann wird die Fahrt fortgesetzt.

Nach insgesamt rund fünfzig Kilometern führt die neue Straße in den Ort Calovébora und endet dort. Etwa drei Stunden haben wir für diese Strecke gebraucht.

Herzlich willkommen in Calovébora

An der Bushaltestelle sitzen ein paar Einwohner des Dorfs. Und starren uns an. Wir fragen uns zunächst, ob wir vielleicht wie Außerirdische aussehen, können uns das aber gegenseitig so nicht bestätigen.

Um eine Unterkunft zu suchen gehen wir mangels besserer Idee erstmal Richtung Strand.

Unterwegs sehen wir ein Haus, das wie ein Hotel aussieht. Zahlreiche Menschen sitzen dort herum, die eine Hälfte beachtet uns nicht, die andere verfolgt uns mit einem ausdruckslosen Blick.

Wir finden keine Rezeption oder ähnliches, und als ich nachfrage, zeigt man grob in Richtung eines Kiosks. Aber auch dort will sich niemand um uns kümmern.

Egal, wo wir vorbeikommen, wir werden entweder angestarrt oder ignoriert. Nadine fühlt sich in diesem Ort nicht willkommen.
Ich empfinde das nicht ganz so. In Südamerika haben wir bereits häufiger die Erfahrung gemacht, dass in entlegenen Ecken mit indigener Bevölkerung die Leute etwas, nun ja, sagen wir einmal: reservierter sind. Nun erleben wir das zum ersten Mal in Zentralamerika. Immerhin verschwinden hier in Calovébora nicht alle in ihren Häusern, wenn sie uns sehen, so wie uns das gestern passiert ist, als wir uns während eines Spaziergangs verlaufen haben.

Die familiäre Unterkunft

Außer dem vermeintliche Hotel finden wir in dem Dorf nichts, was irgendwie nach Unterkunft aussieht. Deshalb fragen wir nach. Man verweist auf ein Haus direkt hinter der Bushaltestelle, also gehen wir dorthin.
Eine Großfamilie sitzt hier vor dem Haus, die Kinder rennen in der Gegend herum. Wir werden ignoriert.
Wenn das hier tatsächlich eine Unterkunft wäre, müsste ja eigentlich irgendwer zumindest eine kleine Regung des Interesses zeigen, wenn Touristen vor dem Haus stehen. Aber nein, keine Reaktion.

Ich frage trotzdem nach. Und tatsächlich, hier gibt es Zimmer zu vermieten: Im Obergeschoss des Hauses wurde bis zur halben Deckenhöhe eine Wand eingezogen, so dass sich daraus mehr oder weniger zwei Zimmer ergeben. In diesen Zimmern sieht es zwar ziemlich chaotisch aus, aber man verspricht uns, eines davon herzurichten, und dann könnten wir es für 25 Dollar pro Nacht bekommen.

Wir sind uns nicht so ganz sicher, ob das hier eine allzu gute Idee ist, auch weil gerade um diese Zimmer herum zahlreiche Kinder schreiend herumturnen. Ich liebe familiäre Unterkünfte, aber das hier ist mir vielleicht ein bisschen zu familiär.

Das Hotel

Also gehen wir nochmal zu dem Kiosk neben dem Hotel. Und endlich finden wir die zuständige Frau, die sich um das Hotel kümmert.
Bisher haben wir in dem Dorf noch keinen einzigen Menschen lachen sehen, dafür ist sie hingegen ununterbrochen am Lachen, bei jeder passenden und vor allem auch bei jeder unpassenden Gelegenheit.

Ein wenig seltsam ist dieses Dorf schon.

Jedenfalls bekommen wir ein Zimmer für 25 Dollar pro Nacht, offensichtlich ist das der Calovébora-Einheitspreis. Wir verschaffen uns sozusagen ein kostenloses Upgrade, indem wir nicht das eigentlich angebotene Zimmer nehmen, sondern eines mit Meerblick.

So wirklich sauber ist es hier allerdings nicht, was durchaus auch Erfahrungen entspricht, die wir in anderen Gegenden mit indigener Bevölkerung gemacht haben. Ob es da aber wirklich einen Zusammenhang gibt, kann ich nicht beurteilen.

Auf dem Boden unseres Zimmers liegt noch eine Socke, und als wir darauf hinweisen, bekommt die Frau einen erneuten Lachanfall, „oh, una media!“
Sie schiebt die Socke vor die Tür und unser Zimmer ist bezugsfertig.

Einen Spiegel gibt es hier nirgends, weder im Bad noch im Zimmer noch sonst irgendwo. Man kann also nicht überprüfen, ob man wie ein Außerirdischer aussieht.

Jedenfalls, wenn man über einiges hinweg sieht, beispielsweise über die Teller mit Knochen und Fischresten auf der Terrasse vor unserem Zimmer, ist es wirklich schön hier.

Von der großen Terrasse aus hat man einen Blick auf den Strand und ins Grüne. Hier kann man es ganz gut aushalten.

Der Strand

Was für das Hotel gilt, gilt auch für den Strand: Wenn man über einiges hinweg sieht, ist es wirklich schön hier.

Man darf sich nur nicht von dem herumliegenden Müll stören lassen oder beispielsweise davon, dass regelmäßig Autos über den Strand fahren.

Ein spätes Mittagessen

Zu unserem Hotel gehört auch ein Restaurant, aber als wir die Speisen sehen, die dort in Buffetbehältern ausliegen, entscheiden wir, dass es vielleicht besser ist, hier nichts zu essen. Alles ist völlig vertrocknet und sieht so aus, als ob es schon den ganzen Tag hier ungekühlt herumliegt, mindestens.

Also gehen wir nochmal durchs Dorf und lassen uns anstarren und/oder ignorieren.

Wir finden tatsächlich noch ein Restaurant, zumindest steht das auf einem Schild. Eine Gruppe junger Männer sitzt dort auf einer Mauer, trinkt Bier und - genau: starrt uns an.

Wir lassen uns dadurch nicht beirren und fragen den Mann, der hier regelmäßig neue Bierdosen zu den Leuten bringt, ob es etwas zu essen gibt. Ja, gibt es, und er führt uns zu dem einzigen Tisch abseits der fröhlichen Biertrinkergruppe.

Mein Essen ist übrigens hervorragend, Nadines hingehen ungenießbar.

Kein Wasser

Zurück im Hotel wollen wir duschen, was aber daran scheitert, dass kein Wasser aus der Leitung kommt.

Also gehe ich zu der lachenden Hotel/Kiosk-Frau und schildere unser Problem. Nach einiger Zeit hat sie die Ursache herausgefunden: Der Wassertank ist leer.

Aber im Wassertank fürs untere Geschoss ist noch etwas Wasser drin, und dort gibt es auch ein Bad mit WC und Dusche, und das könnten wir benutzen. Sie will mir das Bad zeigen, aber gerade noch rechtzeitig stellt sie fest, dass das Bad offensichtlich nicht vorzeigbar ist, und bittet mich zu warten. Sie verschwindet mit einem Lappen und Wischmop in dem Bad und kurz darauf ist es dann fertig.

Allerdings, wenn das jetzt der geputzte Zustand ist, dann möchte ich wirklich nicht wissen, wie es vorher aussah. Nadine weigert sich, hier zu duschen, sie wüsste nicht einmal, wo sie hier das Handtuch oder die Klamotten hintun soll, ohne dass alles im Dreck liegt.

Nun ja. Mein Handtuch hänge ich an den Lichtschalter und meine Klamotten lege ich in die Höhe gestapelt über meinen Kulturbeutel. Klappt prima.

Der Kochbananenspezialist

Die lachende Hotel/Kiosk-Frau begrüßt mich jedesmal lauthals mit „Hola Manuel“, wenn ich mich dem Kiosk auch nur von weitem nähere. Wenn ich diese Begrüßung nicht höre, bedeutet das, dass sie gerade nicht da ist.

In der Regel ist sie dann in den Tiefen ihres Ladens verschwunden und sucht etwas. Und das kann bei dem speziellen Ordnungssystem hier durchaus ein bisschen länger dauern.

Neben mir steht der mutmaßliche Auftraggeber der aktuellen Suchaktion am Kiosktresen. Er gehört nicht zu der Anstarren-Fraktion, sondern zu der Ignorieren-Fraktion.

Ich wage einen Versuch und spreche ihn an, vor allem um zu überprüfen, ob Nadine recht hat und die Menschen hier uns Touristen gegenüber tatsächlich ablehnend eingestellt sind.

Mangels besserer Idee mache ich einfach einen Kommentar über die riesigen Kochbananen, die zwischen uns auf dem Tresen liegen.
Und schon legt mein Kiosktresennachbar los, wie wenn er nur auf die Gelegenheit gewartet hätte. Er erklärt mir, was für eine Sorte Kochbananen das ist und welche Sorten es noch gibt und was für Unterschiede es dabei gibt und und und. Wenn ich mir das alles gemerkt hätte, wäre ich jetzt der absolute Kochbananen-Spezialist. Ich habe aber nur das Fazit behalten, und zwar, dass sich alle Sorten für Patacones* eignen.

Land:Panama
Ort:Calovébora
Reisedatum:19.03.2023 - 20.03.2023
Autor:Manuel Sterk
Veröffentlicht:22.03.2023
Leser bisher:60

*) Patacones sind frittierte Scheiben von Kochbananen, die meistens als Beilage serviert werden, ähnlich wie beispielsweise Pommes frites. In Panama und auch weiter nördlich, in Costa Rica, schmecken sie wirklich gut, manchmal sogar sehr gut. Weiter südlich dagegen, in Kolumbien, sind sie in der Regel zu Tode frittiert und, zumindest für mich, kaum noch genießbar.

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