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Bolivien
Rurrenabaque

Pedro, der Alligator

Lesedauer: ca. 15 Minuten

Feuerameisen drangsalieren Motorraddiebe, ein Schamane verabreicht Drogen, wir krachen mit dem Boot in einen Baum, nachts gehen wir mit einem betrunkenen Führer in den Dschungel, oder auch nicht, und zum Schluss suchen wir Schlangen im Sumpf. Und außerdem lernen wir Pedro kennen. Willkommen im Amazonas-Gebiet Boliviens!

Motorraddiebe

In einem bolivianischen Dorf wurden zwei mutmaßliche Motorraddiebe gefasst. Der Dorfrat hat entschieden, dass sie zur Strafe an einen Baum gefesselt werden, an dem Feuerameisen leben. Als sie einige Zeit später losgebunden wurden, landeten sie auf der Intensivstation eines Krankenhauses, einer davon mit Nierenversagen.

Als ich diese Geschichte vor ein paar Tagen in einer Online-Zeitung gelesen habe, konnte ich noch nicht wissen, dass ich bald selbst vor so einem Feuerameisen-Baum stehen werde. Mitten im Dschungel im Amazonas-Gebiet.
Allerdings bin ich nicht daran gefesselt, zum Glück.

Die Feuerameisen leben in Symbiose mit dem Baum: Dafür, dass sie hier wohnen dürfen, versprühen sie regelmäßig ihr Gift in die Gegend. Das führt dazu, dass um den Baum herum alle anderen Pflanzen absterben. Was ein entscheidender Vorteil für den Baum ist, denn in diesem grünen Kriegsgebiet kämpft jede Pflanze mit allen erdenklichen Mitteln darum, etwas Sonnenlicht abzubekommen. Parasitäre Bäume schlingen sich um riesige Palmen, bis sie diese stranguliert haben, so dass nur noch sie übrig bleiben. Dieses Schicksal kann den Feuerameisen-Baum also nicht ereilen.

Obwohl ich ausreichend Abstand vor solchen Bäumen halte, erwischt mich irgendwann eine Ameise, und zwar am Hals, wie auch immer die dorthin gekommen ist. Stundenlang spüre ich das heftige Brennen.

Dabei habe ich noch Glück: Wir stoßen auf riesige Ameisen, deren Gift derart heftige Schmerzen auslöst, dass sie kaum zu ertragen sein sollen. Und das über vierundzwanzig Stunden hinweg. Man kann sich gut vorstellen, was dann mehrere dieser Ameisen mit einem anrichten können.

Unsere Führer auf unseren diversen Spaziergängen durch den Dschungel scheinen erpicht darauf zu sein, uns Touristen so schnell wie möglich wieder loszuwerden, könnte man denken.
Zumindest machen sie einem gewaltig Angst, wenn sie alle paar Meter erklären, vor was für einer giftigen Pflanze man da schon wieder steht und welche Tricks diese Pflanze hier auf Lager hat, um sich vor anderen Pflanzen, vor Tieren, Motorraddieben und unbedarften Touristen zu schützen. Gruselig.

Apropos Motorraddiebe: Ich lerne, dass diese Feuerameisen-Bestrafung nicht eine aberwitzige Idee der Bewohner dieses Dorfs war, sondern dass sie gängige Praxis im durch Schamanen geregelten Justizsystem der Region ist. Unser Führer kann sich an eine Situation erinnern, als er als Kind vor einem an Feuerameisen gefesselten Mann stand, der ihn um Wasser angefleht hat. Sein Großvater hat ihn aber weggezogen, man dürfe sich da nicht einmischen.
Jedenfalls scheinen derartige Bestrafungen dazu zu führen, dass die meisten Täter kein weiteres Mal straffällig werden.

Aber neben den gefährlichen Pflanzen gibt es hier auch Pflanzen, die medizinisch genutzt werden können. Beispielsweise als Gegengift zum Biss einer Schlange, die hochgiftig ist und die hier recht häufig vorkommt, erklärt man uns. Aha. Sehr beruhigend.

Wasser aus der Liane

Wir lernen, von was man sich im Dschungel ernähren kann, sollte man hier verloren gehen. Und welche Verletzungen und Krankheiten man mit dem Saft oder den Blättern welcher Pflanzen kurieren kann. Wenn ich mir das alles merken könnte, könnte ich nun problemlos einige Zeit im Dschungel überleben.

Unser Führer kappt mit seiner Machete eine Liane, die vollgefüllt mit Wasser ist. Wie ein Schwamm saugen die Lianen das Wasser auf. Und das Wasser aus diesem Schwamm gibt er mir zu trinken. Es schmeckt unbeschreiblich nach Frische. Welch ein Kontrast zu dem sonnenerhitzten Trinkwasser aus Plastikfkaschen, das es ansonsten zu trinken gibt.

Dann zeigt uns unser Führer eine Liane, die giftig ist. Für mich sieht sie genauso aus wie die, aus der ich getrunken habe. Ob er sich sicher sei, dass das vorhin keine giftige Liane war, frage ich ihn. Das werden wir in ein paar Minuten sehen, bekomme ich als Antwort. Hoffentlich war das als Scherz gemeint.

Der Nachtspaziergang

Nach dem Abendessen sind wir mit unserem Führer zu einem Nachtspaziergang in den Dschungel verabredet. Als er uns dann abholen kommt, sind wir allerdings nicht mehr davon überzeugt, dass das eine allzu gute Idee ist: Unser Führer ist sternhagelvoll. Hier im Dschungel scheint es sehr effektiv wirkenden Alkohol zu geben.

Die Frage, ob wir mit ihm wirklich in den Dschungel gehen sollen, stellt sich aber letztendlich gar nicht: Vor der ersten Pflanze nach unserem Camp bleibt er stehen und versucht eine Viertelstunde lang, uns etwas dazu zu erklären, was ihm aber irgendwie nicht gelingen will. Also geben wir auf, ansonsten würden wir vermutlich noch Tage später vor dieser Pflanze stehen.

Ayahuasca

Um sechs Uhr am nächsten Morgen startet unser Boot, das uns aus dem Dschungel heraus zurück nach Rurrenabaque bringt. Und kaum sind wir unterwegs, fängt es heftig an zu regnen. Zwei Stunden später steigen wir tropfend und frierend aus.

Unser Führer ist mit uns mitgefahren, einerseits, so vermute ich, um während der Fahrt auszunüchtern, und andererseits, weil sein nächster Auftrag auf ihn wartet: Ein junger Japaner möchte unbedingt Ayahuasca ausprobieren, ein halluzinogenes Getränk, das von Schamanen zubereitet wird. Unser Führer wird ihn zu einem Schamanen bringen, der ihm diese Droge verabreicht und in dessen Haus er dann die Nacht verbringen kann.
Wir waren dabei, als die beiden vorgestern die entsprechenden Vereinbarung getroffen haben, genauer gesagt musste Nadine dabei als Dolmetscherin einspringen, weil der Japaner zwar Englisch aber kein Spanisch spricht. Sehr mutig, sich ohne die Möglichkeit der sprachlichen Verständigung auf so ein Abenteuer einzulassen, finde ich.

Wir hingegen halten uns von Drogen fern und machen uns auf den Weg in die Pampas.

Die Pampas

Die Pampas, das ist ein Gebiet, das aussieht wie eine ganz normale Landschaft aus Sträuchern und Bäumen und Wäldern und Lichtungen, nur dass eine gehörige Portion Wasser darüber gekippt wurde. Je nach Jahreszeit steht hier das Wasser unterschiedlich hoch, im Moment steht es sehr hoch, schließlich ist Regenzeit.

Da alle Wege unter Wasser stehen, bewegt man sich hier naheliegenderweise in Booten fort.
An der Bootsanlegestelle haben sich ein paar Verkäuferinnen positioniert, die, wie das in Bolivien üblich ist, alle das gleiche verkaufen. Und hier gehört gekühltes Bier zum Angebot. Also kaufen wir eine Runde für unsere Bootsbesatzung, die aus dem Bootsführer, drei Chilenen und uns besteht.
Wir fahren los. Der Bootsführer scheint ein wenig unkonzentriert zu sein, vielleicht liegt es am Bier, jedenfalls bremst er nach einiger Zeit in voller Fahrt das Boot ab und dreht um. Leider hat er die Einfahrt verpasst, entschuldigt er sich.

Aber eigentlich ist es eher erstaunlich, dass man sich hier überhaupt zurechtfinden kann: Ein kaum vorstellbares Wirrwarr aus Wasserwegen ist das. Breite Straßen, enge Gässchen, Sackgassen. Kilometer um Kilometer.

Der Affenüberfall

Aus einem Busch wird unser Boot von unzähligen kleinen Affen überfallen. Offensichtlich wissen die Affen, dass um diese Uhrzeit hier Touristen vorbeikommen, die hoffentlich Bananen an Bord haben.

In unserem Camp gibt es auch solche Affen, hat man uns gestern erzählt, und wir sollen aufpassen, denn diese Affen klauen gerne. Einer anderen Gruppe wurde eine Taschenlampe geklaut. Und jetzt stelle ich mir vor, wie diese Affen nachts mit einer Taschenlampe in der Hand von einem Baum zum anderen springen. Zumindest werden wir sie dann sehen, wenn sie sich auf den Weg zu unserer Hütte machen.

Aber bevor wir in unserem Camp ankommen, fängt es mal wieder kräftig an zu regnen. Hier wird man also ausreichend häufig geduscht und die Klamotten werden regelmäßig durchgewaschen, darum muss man sich wirklich keine Gedanken machen.

Delfine

Am nächsten Morgen fahren wir zu einer Lichtung. Und da hier schließlich alles voll mit Wasser ist, ist diese Lichtung eine Art See, nur dass es eben kein abgegrenztes Ufer gibt. Und in diesem See schwimmen Delfine. Bereits auf dem Weg dorthin sind uns zahlreiche Delfine begegnet, irgendwie ein ungewohnter Anblick: Delfine in einem Fluss.

Jedenfalls sind wir hier, weil man in diesem See mit Delfinen schwimmen kann. Das Problem ist nur, dass es heute hier deutlich mehr Touristen gibt als Delfine. Dennoch, irgendwie faszinierend zu beobachten, dass diese Tiere tatsächlich die Gesellschaft von uns Menschen suchen und sich unter die Badenden mischen.

Pedro, der Alligator

Im Camp setzt sich Nadine auf den Steg vor unserem Zimmer, liest in ihrem Buch und trinkt einen Kaffee.
Und plötzlich kommt ein riesiger Alligator aus dem Wasser und legt sich einen Meter neben sie.

Das ist Pedro. So wird er uns vorgestellt. Alligatoren bewohnen ein räumlich eng begrenztes Revier, wird uns erklärt, und Pedro hat sich dieses Camp als sein Revier auserkoren. Und somit begegnen wir Pedro immer wieder und gewöhnen uns langsam an ihn. Den Steg verlassen wir aber nicht mehr.

Der Verkehrsunfall

Am Nachmittag werden wir Opfer eines Verkehrsunfalls: Unser Boot kommt von der Straße ab, es rast mit voller Geschwindigkeit mitten in den Wald. An einem Baum kommen wir schließlich zu stehen.

Aber wir haben Glück: Der erste dicke Ast hängt einen Meter vor unseren Gesichtern, davor war nur Gestrüpp. Wir kommen also mit ein paar Kratzern davon.

Was ist passiert?
Unser Bootsführer war abgelenkt. Er hat gemeint, auf der anderen Seite einen Kaiman zu sehen, und hat sich so darauf konzentriert, dass er dabei die Kontrolle über das Boot verloren hat.
Entschuldigung. Keine Ursache, ist ja nichts passiert.

Die Anakonda

Am nächsten Morgen halten wir vor einem großen Sumpfgebiet. Dort soll es Anakondas und einige weitere Schlangen geben, einige davon sind hochgiftig.
Ausgerüstet mit Gummistiefeln durchkämmen wir nun dieses Gebiet, um die Schlangen aufzustöbern.

Das bolivianische Verständnis über die Notwendigkeit von Sicherheitsvorkehrungen beeindruckt mich immer wieder aufs Neue. Dass Autos über keine Sicherheitsgurte und Boote über keine Schwimmwesten verfügen, an so etwas gewöhnt man sich recht schnell. Zumal ja viele Autobesitzer sich mit ihrem neuerworbenen Fahrzeug als erstes auf den Weg nach Copacabana am sagenumwobenen Titicaca-See machen, um es dort zunächst von einem katholischen Priester segnen zu lassen und dann, doppelt hält besser, noch von einem Schamanen. Die somit unter dem Schutz von Gott und von Pachamama stehenden Autos sind nun davor geschützt, in einen Unfall verwickelt zu werden, dadurch erübrigen sich natürlich weitere Sicherheitsvorkehrungen wie beispielsweise Gurte oder eine angepasste Fahrweise. Auch wenn die bolivianische Unfallstatistik etwas anders nahelegt. Aber wer traut schon Statistiken.

Jedenfalls erstaunt es mich als typischen Deutschen, der ja ein mitunter bis ins Absurde übertriebenes Sicherheitsdenken gewohnt ist, dass wir hier ohne irgendwelche Erläuterungen und sonstige Maßnahmen in diesen Sumpf mit seinem hohen Gras geschickt werden, um dort Schlangen zu suchen.
Ich hoffe nur, dass wir die Schlangen sehen, bevor wir auf sie trampeln oder bevor sie uns sehen, und vor allem hoffe ich, dass sie nicht irgendwie unüberlegt reagieren.

Aber unser Ausflug endet ziemlich schnell, denn Nadine hat keine Lust, durch diesen Matsch zu laufen, und kehrt um. Und da ich sie ungern mit den Schlangen allein lassen möchte, komme ich mit. Immerhin kann ich nun endlich meine Schuhe ausleeren, denn einer meiner beiden Gummistiefel ist ganz offensichtlich nicht dicht. Ziemlich eklig, was da für eine Drecksbrühe rausläuft.

Neben der Bootsanlegestelle gibt es eine Art Bar, wo zwei Schweine an einen Barhocker angebunden sind. Diese werden nachher geschlachtet, für das Silvester-Festmahl heute Abend, erzählt man uns stolz.
Wir bestellen uns ein Bier und warten, bis der Rest unserer Gruppe aus dem Schlangensumpf zurückkehrt.

Die Rückfahrt

Bei der Hinfahrt in die Pampas waren wir erstaunt, dass es den Bootsführern gelingt, sich in dem Wasserweg-Irrgarten zurechtzufinden. Nun lernen wir: nicht allen Bootsführern gelingt dies gleichermaßen gut.

Stundenlang irren wir über die Flüsse und Verbindungswege der Pampas. Immer wieder wendet unser Bootsführer, um eine verpasste Durchfahrt zu suchen.

Ein enger Weg, links und rechts Schilf. Die erste Abzweigung war falsch, nun probieren wir die zweite. Hier scheint es weiterzugehen. Mit viel Schwung fährt unser Bootsführer vorwärts, und dann, was macht er da? Der Weg führt nach links, aber er hält geradeaus. Alle Köpfe nach unten. Wumm. Wir stecken in einem Busch fest.

Alle helfen mit, dass wir wieder freikommen. Und nach einiger Zeit gelingt es uns auch. Also, weiter gehts.

Und dann, etwas später, eine enge Kurve. Zackbummkrach. Diesmal stecken wir in einem Baum.

Eine mitfahrende Bolivianerin meint zu uns, hoffentlich fährt dieser Bootsführer niemals ein Auto. Wir können ihr nur zustimmen.

Diesmal schafft es der Bootsführer allein, uns aus dem Dickicht herauszumanövrieren. Die Irrfahrt kann fortgesetzt werden.
Jeder Unfall hinterlässt seine Spuren an der bolivianischen Flagge am Bug. Zum Schluss hängt sie nur noch als Fetzen an einem abgebrochenen Holzstiel.

Aber erstaunlicherweise passiert uns Passagieren nichts, allen gelingt es jedesmal rechtzeitig, sich in Sicherheit zu bringen.
Und somit kommen wir letztendlich an der Bootsanlegestelle in Santa Rosa an.
Was uns aber nichts nützt. Denn hier stehen nicht genügend Autos bereit, um uns alle ins zwei Fahrstunden entfernte Rurrenabaque zurückzubringen.

Also warten wir und hoffen, dass sich noch eine Transportmöglichkeit findet. Aber wir haben es besser als eine andere Reisegruppe, die hier ebenfalls gestrandet ist: in Kürze startet ihr Flug nach La Paz, von Rurrenabaque aus.
Mal sehen, vielleicht verbringen wir Silvester gemeinsam mit ihnen hier an dieser Bootsanlegestelle.

Land:Bolivien
Ort:Rurrenabaque
Reisedatum:27.12.2018 - 31.12.2018
Autor:Manuel Sterk
Veröffentlicht:01.01.2019
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