Plötzlich stehen wir nachts um drei Uhr in einem menschenleeren bolivianischen Dorf. Und haben keine Ahnung, was wir nun tun sollen.
Die Busfahrt
Zwischen sieben und zweiundzwanzig Stunden dauert die Busfahrt von Sucre nach Samaipata, jenachdem, wo man nachliest beziehungsweise wen man fragt. Selbst Leute, die es eigentlich wissen müssten, beispielsweise Busfahrer oder Ticketverkäufer, widersprechen sich gewaltig. Seltsam. Am dichten Verkehr kann es wohl kaum liegen, schließlich wird es eine Nachtfahrt. Lassen wir uns also überraschen.
Wir haben für diese Fahrt sozusagen einen Luxusbus gebucht: Cama-Sitze, also Sitze, die sich in ein Bett umfunktionieren lassen, und eine Toilette im Bus. Aber natürlich gibt es dann keine Toilette im Bus und die Sitze sind ganz normale Bussitze, wenn auch recht breite und komfortable.
Aber wir dürfen uns nicht beschweren, wir haben die vordersten Plätze im oberen Stock des Doppeldecker-Busses ergattern können, wir haben ausreichend Platz, es ist warm und, was in Südamerika eigentlich kaum vorstellbar ist, der Fernseher vor uns ist die ganze Fahrt über ausgeschaltet.
Die vordersten Sitze haben jedoch einen gravierenden Nachteil: Man sieht, was auf der Straße passiert, wann der Busfahrer mit seinem Riesengefährt kurz vor einer Kurve ein Überholmanöver startet, wie steil der Berg hinunter geht, auf den er gerade mit viel Schwung zufährt.
Erst vor ein paar Tagen haben wir von einem Busunfall in Bolivien gelesen, bei dem siebzehn Menschen ums Leben gekommen sind.
Zunächst geht es über lange Zeit in Serpentinen die Berge hinunter. Dann hält der Bus an einer Art Raststätte an, zum Abendessen. Allerdings können wir uns nicht vorstellen, dass uns das Essen von den Essensständen hier besonders gut bekommen wird, so wie es hier aussieht, also lassen wir das besser bleiben.
Aber die Toiletten nutze ich aus, wer weiß, ob es später noch eine weitere Gelegenheit geben wird.
Dass Toiletten über keine Spülung verfügen sondern dass man das Wasser hierzu mit einem großen Becher aus einem Wasserfass holen muss, das ist nichts Außergewöhnliches. Aber dass dieses bereitgestellte Wasser eine braune Drecksbrühe ist, die so aussieht wie, ähm, lassen wir das besser, jedenfalls das ist dann schon etwas speziell.
Und dann geht die Fahrt weiter. Irgendwann bekommt der Busfahrer keinen Gang mehr eingelegt und wir denken schon, dass unsere Busfahrt hier mitten im finsteren Niemandsland in den Anden zu Ende ist, aber nach einiger Zeit beruhigt sich das Getriebe wieder.
Nun geht es stundenlang durch eine Baustelle. Falls man das so nennen kann. Die Umleitungen sind mitunter derart abenteuerlich und die Fahrbahn ist in einem solchen Zustand, dass ich denke, hier kommt man nur mit einem Allrad-Geländewagen durch, keinesfalls mit einem Monsterbus wie dem unseren, aber erstaunlicherweise klappt es irgendwie doch.
Jedenfalls, eine wirklich entspannte Busfahrt ist das nicht.
Am Busterminal in Sucre ist vor uns ein Bus losgefahren des Unternehmens „Expresso Tequila Pluss“, und da dachte ich noch, damit würde ich nicht mitfahren wollen, aber womöglich verfolgt dieses Busunternehmen das genau richtige Konzept, denn mit ausreichend Tequila lässt sich eine solche Fahrt vermutlich deutlich besser ertragen.
Der Horrorfilm
Um drei Uhr nachts steigen wir an einer Straßenkreuzung aus dem Bus aus.
Und da stehen wir nun. Wir haben nicht damit gerechnet, so früh schon da zu sein.
Wir gehen in das Dorf Samaipata hinein, erst durch eine Baustelle hindurch, dann über einen Bach und danach den Berg hinauf. Alle Häuser sind dunkel, keine Menschenseele ist unterwegs, kein Auto, nichts. Nur Straßenhunde, die uns bedrohlich anbellen.
Wir erreichen den zentralen Platz des Dorfs. Was uns dort erwartet, ist die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm: Es ist dunkel, menschenleer, nur wir sind da, es flackert eine bunte Weihnachtsbeleuchtung und in der Mitte des Platzes blinkt eine Art Pyramide. Und von dieser Pyramide gehen Geräusche aus. Zuerst ist uns nicht klar, was das für gespenstische Geräusche sind. Aber dann hören wir es heraus: Merhrstimmige, quäkende Weihnachtslieder. Entweder ist das ein Irrenhaus, ein schlechter Trip oder ein Horrorfilm, aber eine reale Welt ist das hier ganz sicher nicht. Wir tippen auf Horrorfilm und rechnen damit, dass in der Pyramide eine blutige Weihnachtsmörderpuppe auf uns wartet.
Neben der Pyramide ist eine Krippe aufgebaut. Alle sind da, auch die drei Könige und massenweise Geschenke. Aber das Jesuskind fehlt. Was hat das zu bedeuten?
Die Nacht
Es ist mitten in der Nacht, alles um uns herum ist ausgestorben und wir wissen nicht, wohin.
Auf eine Bank am zentralen Platz können wir uns nicht setzen, denn dort quäkt Weihnachtsmusik. Und außerdem ist da diese Weihnachtsmörderpuppe, ganz bestimmt.
Also gehen wir ein paar Blöcke weiter und setzen uns unter ein Vordach. Allerdings wird es uns hier zu kalt. Wir müssen uns wieder bewegen. Also packen wir unsere Rucksäcke auf den Rücken und drehen eine Runde durchs Dorf. Und noch eine. Und noch eine.
Langsam zeigt sich das erste Licht des neuen Tages. Noch eine Dorfrunde. Und noch eine. Es wird langsam heller, die Vögel zwitschern um die Wette. Noch eine Dorfrunde.
Mittlerweile sind die Vögel so laut, dass man das Gequäke der Weihnachtsmörderpuppe kaum mehr hört. Also setzen wir uns nun doch auf eine Bank, auf die am weitesten davon entfernte. Wir packen uns mit dem ein, was in unseren Rucksäcken gerade greifbar ist. Und verbringen so den Rest der Nacht auf einer Parkbank in diesem bolivianischen Dorf.
Land: | Bolivien |
Ort: | Von Sucre nach Samaipata |
Reisedatum: | 10.12.2018 |
Autor: | Manuel Sterk |
Veröffentlicht: | 11.12.2018 |
Leser bisher: | 313 |
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Also alles sehr sehr seltsam...
Aber vielleicht verstehe ich auch einfach nur nicht genug davon.