Hektisch, chaotisch, es gibt kaum ein Durchkommen auf den Gehwegen, so begrüßt uns Valparaíso, als unser Bus mit knapp dreistündiger Verspätung dort ankommt.
Die Stadt besteht aus dem am Meer gelegenen Zentrum, aus einem riesigen Hafen und aus zahlreichen Hügeln, an denen unendlich viele bunte Häuser kleben.
Ein einziges riesiges Chaos ist das, könnte man denken, wenn man von der Ferne auf diese Hügel schaut. Und wenn man dann mitten drin ist, stellt man fest: das ist ein noch viel größeres Chaos.
Und genau das macht diese Stadt so interessant. An jeder Straßenecke gibt es etwas zu entdecken, imposante Villen, baufällige Holzhütten, faszinierende Graffiti, Häuser, die auf andere Häuser gebaut wurden oder ineinander verschachtelt sind - hier wird es keine Sekunde langweilig. Mitunter gelangt man auf die Hügel mit einem Ascensor, einer Mischung aus Aufzug und Standseilbahn, ansonsten geht man über verwinkelte Treppen hinauf und hinunter. Und eine dieser verwinkelten Treppen soll uns später zum Verhängnis werden.
Pittoresk
Valparaíso besteht aus 42 Hügeln. Zumindest ist das die meistgenannte Zahl, anscheinend sind die Hügel nicht präzise zählbar, denn man findet die unterschiedlichsten Angaben hierzu. Jeder dieser Hügel ist anders. Die beiden direkt an die Altstadt angrenzenden Hügel sind ziemlich herausgeputzt und touristisch. Pittoresk ist das Wort, dass dem Autor des Wikipedia-Eintrags hierzu eingefallen ist, und damit liegt er wirklich nicht falsch. Auch unsere Unterkunft befindet sich hier, und wenn man aus dem Fenster schaut, könnte man meinen, man wäre in Paris. Oder vielleicht auch in einer anderen europäischen Stadt, denn dass mir ausgerechnet Paris einfällt, das liegt vermutlich daran, dass sich direkt gegenüber unserer Unterkunft ein französisches Restaurant befindet. Oder zumindest ein Restaurant mit einem französischen Namen.
Hier lässt es sich sehr gut aushalten. Man kann von einem Café zum nächsten schlendern und so problemlos einige Zeit verbringen. Nach zwei Monaten Südamerika tut uns ein wenig Europa-Feeling ganz gut.
Cerro Abajo
Nadine hat mit einer Erkältung zu kämpfen und bleibt hier, ich hingegen verlasse dieses Europa und gehe auf Hügeltour. Und befinde mich plötzlich inmitten von Hunderten an Menschen, die zusammen mit mir bergauf strömen. Wo wollen die denn alle hin?
Die Hügel in Valparaíso heißen Cerro, was nicht besonders einfallsreich ist, denn Cerro ist schlichtweg das spanische Wort für Hügel. Und das spanische Wort „abajo“ heißt auf Deutsch „hinunter“. Man kann sich also leicht zusammenreimen, worum es bei der Sportveranstaltung „Cerro Abajo“ geht.
Und genau die findet gerade statt: Die Downhill-Weltelite trifft sich in Valparaíso, um auf ihren Mountainbikes die Hügel der Stadt hinunter zu brettern, über Treppen, an den Wohnzimmern der Einwohner vorbei, über einen Bus hinweg und einem zur Schanze umfunktionierten Hausdach.
In der Tat, in Valparaíso wird es wirklich keine Sekunde langweilig.
Kohlenmonoxidvergiftung unter der Dusche
Als ich nach diesem ziemlich abwechslungsreichen Tag abends in unserem Hostel unter die Dusche gehen will, staune ich nicht schlecht: Zwar gibt es hier heißes Wasser, aber man ist gut damit beraten, dieses nicht allzu lange zu nutzen. Denn der Abluftkamin der Therme geht nicht etwa nach draußen, sondern endet direkt im Raum.
Immerhin haben die Besitzer des Hostels ein großes Loch in die Badezimmertür geschlagen, so dass ausreichend Sauerstoff hineinkommt. Hoffe ich jedenfalls.
Und tatsächlich trage ich durch das Duschen zumindest keine unmittelbaren Gesundheitsschäden davon.
Fette Beute
Mitunter lässt es sich nicht vermeiden, mit seinem ganzen Gepäck durch die Gegend zu spazieren, zum Beispiel auf dem Weg vom Busbahnhof zur Unterkunft. Aber das ist anstrengend. Und zwar nicht wegen des Gewichts, sondern weil man dauernd aufmerksam sein muss. Was passiert gerade um mich herum in dieser Menschenmenge? Soll ich durch diese einsame Gasse gehen oder doch vielleicht lieber einen Umweg nehmen? Ist dieser Stadtteil einigermaßen sicher oder sollte ich ihn besser meiden? Kann ich dem Taxifahrer trauen? Man sollte nicht paranoid werden, aber eine gesunde Skepsis und Vorsicht ist sicherlich angebracht, wenn man seine Sachen die ganze Reise über behalten will.
Und daher finde ich es ziemlich erstaunlich, was manche Touristen auf einem Stadtspaziergang so alles dabei haben. Schmuck am Arm, Fotoapparat in der Hand, Smartphone in der einen Hosentasche und in der anderen ein dicker Geldbeutel, dazu ein Rucksack auf dem Rücken und/oder eine Handtasche um die Schulter.
Ich jedenfalls fühle mich deutlich besser, wenn ich lediglich eine Wasserflasche in der Hand und ein paar Peso in der Hosentasche habe. So kann ich vollkommen unbeschwert überall hingehen. Und muss auf nichts aufpassen. Sollte mir jemand meine paar Peso klauen, na gut, dann ist es eben so. Aber warum sollte ein potentieller Dieb den Typen mit der Wasserflasche ausrauben, wenn ein paar Meter weiter jemand einen fetten Rucksack auf dem Rücken hat? Eben.
„Was man nicht dabei hat, das kann einem nicht geklaut werden,“ diesen Grundsatz berücksichtigen wir eigentlich immer, wenn wir unterwegs sind. Und daher ist es besonders ärgerlich, was nun passiert.
Schuld ist Nadines Erkältung, wenn man so will. Denn auch am nächsten Morgen geht es Nadine noch nicht viel besser, also vereinbaren wir, dass sie sich lediglich in ein Café setzt und ich erstmal alleine losziehe. Vielleicht geht es ihr am Nachmittag besser.
Und so packt Nadine ein paar Sachen ein für einen entspannten Café-Vormittag: ihr Handy, ihren E-Book-Reader und ihren Geldbeutel.
Auf dem Weg zum Café überlegt sie es sich anders, sie will nun doch ausprobieren, ob sie fit genug ist, und kommt mit mir mit.
So weit, so gut.
Wir hätten eigentlich nur ihre Handtasche zurück ins Hostel bringen müssen, und nichts wäre passiert. Aber irgendwie denken wir nicht daran. Verflixt.
Der Raubüberfall
Wir gehen einige Stunden über diverse Hügel und kommen aus dem Staunen nicht heraus. Falls ich es noch nicht erwähnt haben sollte, in dieser Stadt wird es wirklich keine Sekunde langweilig.
Einmal wollen wir einen Hügel weiter hinauf gehen, als uns eine ältere Frau davor warnt. Da oben gäbe es schlechte Jungs, sagt sie uns, wir sollten vielleicht besser nicht weiter gehen. Danke für den Hinweis. Also gehen wir zum nächsten Hügel.
Dort essen wir eine Kleinigkeit und entscheiden, dass wir nun erstmal genug vom Hügelgucken haben und zurück wollen. Und obwohl Valparaíso das stadtgewordene Chaos ist, kann man sich eigentlich nicht verirren: Wenn man zurück will, muss man einfach nur bergab gehen und landet dann unweigerlich irgendwann wieder im Stadtzentrum am Meer, wo man sich problemlos orientieren und dann sozusagen zum Heimathügel zurück gehen kann. Wirklich sehr praktisch.
Und wir sind schon fast wieder unten, als es passiert: Anstatt die Straße weiter zu gehen, kürzen wir über eine enge, uneinsehbare Treppe ab.
Sie müssen uns vermutlich schon länger gefolgt sein - und genau hier schlagen sie zu. Ich bin schon ein Stück weiter unten, als ich mitbekomme, dass drei Jungs dabei sind, mit einem Messer Nadines Handtasche loszureißen. Die Gewalt, die sie dabei anwenden, ist erschreckend.
Als wir uns umdrehen, macht einer der drei eine Geste, als ob er einen Stein auf Nadine werfen würde. Ob er wirklich einen Stein in der Hand hat oder nicht, das wissen wir natürlich nicht. Aber wir machen in diesem Moment das vermutlich einzig Richtige: wir lassen die Diebe mit ihrer Beute fliehen. Und gehen die Treppe weiter hinunter.
Keine Minute später kommt uns unten ein Polizeiauto entgegen. Wir halten es an und erklären unsere Situation. Kurzerhand bittet uns der Polizist einzusteigen und wir durchkämmen gemeinsam die Umgebung. Natürlich ohne Erfolg. Die Diebe sind längst in dem Holzhäuserdickicht verschwunden.
Das Zebra
An der Polizeistation wird der Überfall aufgenommen. Das bringt zwar nichts, aber es schadet auch nicht.
Die Polizistin dort fragt, was alles in der Handtasche war. Wir fangen mit der Aufzählung an: Ein iPhone. Die Polizistin notiert das und fragt, von welchem Hersteller dieses iPhone sei. Ich muss zweimal nachfragen, ob ich die Frage richtig verstanden habe.
Von Apple sei dieses iPhone, antworte ich, und die Polizistin notiert auch das.
Als nächstes wäre der Kindle an der Reihe. Dass die Polizistin weder mit Kindle noch mit E-Book-Reader beziehungsweise dem spanischen Begriff hierzu etwas anfangen kann, damit haben wir gerechnet. Also probieren wir es so: Das ist eine Art iPad, nur dass man damit ausschließlich Bücher lesen kann. Ok, notiert. Welche Farbe hat dieses Gerät? Schwarz, und die Hülle hat ein Zebra-Muster.
Darauf die Rückfrage der Polizistin: Was ist denn ein Zebra?
Das spanische Wort für Zebra war nicht allzu schwer zu erlernen, es lautet nämlich „cebra“. Es wird sich hier also eher nicht um ein sprachliches Problem handeln. Weiß die Polizistin tatsächlich nicht, was ein Zebra ist? Wir entscheiden uns gegen zoologische Erklärungsversuche und kürzen ab: die Hülle ist schwarz-weiß-gestreift.
Die materiellen Folgen
Das mit dem iPhone und dem Kindle hätte wirklich nicht sein müssen. Aber ansonsten hält sich der Verlust in Grenzen: Umgerechnet etwa fünfzehn Euro und eine Zigarettenschachtel waren noch in der Handtasche.
Die Polizei ist froh, dass wir unsere Reisepässe nicht dabei hatten und diese somit auch nicht gestohlen werden konnten. Wir hatten eigentlich befürchtet, irgendwann einmal Ärger zu bekommen, weil wir nie unsere Ausweise dabei haben - und nun werden wir dafür von der Polizei gelobt. Sehr gut.
Noch vier Monate werden wir in Südamerika unterwegs sein, zumindest denken wir das, denn noch können wir nicht wissen, dass daraus nichts werden soll. Jedenfalls wäre es gut, wenn Nadine für diese lange Zeit wieder mit Elektronik ausgestattet wäre, schließlich reisen wir im einundzwanzigsten Jahrhundert. Eigentlich müsste es doch einfach sein, einen neuen Kindle zu bekommen, könnte man denken: bei Amazon bestellen, am besten ein iPhone gleich mit dazu, alles ins Hostel liefern lassen, fertig.
Nur: In Chile gibt es kein Amazon. Irgendwie ist es kaum vorstellbar, dass es in eben diesem einundzwanzigsten Jahrhundert ein Problem darstellen kann, an irgendeine Ware zu kommen. Denkt man als verwöhnter Mitteleuropäer.
Aber immerhin, in Valparaíso gibt es tatsächlich Apple-Geräte zu kaufen. Allerdings veraltete Modelle zu überteuerten Preisen. Kein Wunder also, dass solche Geräte gerne geklaut werden. Übrigens ist das mit ein Grund, dass ich Android nutze, denn ein Android-Handy kann man notfalls eigentlich überall billig bekommen. Aber das hilft jetzt Nadine natürlich nicht weiter. Also beschäftigen wir uns einen ganzen Tag mit diesem Thema und erstehen letztendlich ein iPad. Sozusagen als kombinierter Ersatz der beiden gestohlenen Geräte.
Uns gelingt es, diesen Einkauf vom Kaufhaus zu unserem Hostel zu bringen, ohne dass er uns unterwegs geklaut wird. Das klingt jetzt irgendwie ein wenig übertrieben, mag man denken, schließlich lauern nun nicht plötzlich überall Diebe, nur weil wir einmal Pech gehabt haben. Aber dieser erlebte Raubüberfall hat in unseren Köpfen etwas angerichtet.
Die immateriellen Folgen
Wegen einem für die Diebe vollkommen unnützen E-Book-Reader, einem Handy und ein paar Peso wurde Nadine mit unglaublicher Gewalt angegriffen. Der Überfall hätte schwere Folgen haben können, Nadine hätte nur von der ungesicherten Treppe stürzen müssen. Oder das Messer hätte woanders landen können als am Handtaschenriemen. Oder oder oder.
Wie werden wir dieses Erlebnis verarbeiten? Vor allem Nadine?
Was für Folgen wird es für unsere weitere Reise haben? Für unser Verhalten auf dieser Reise?
Wir können es nicht wissen.
Um zu versuchen, die Angst zu überwinden, machen wir am letzten Tag unseres Valparaíso-Aufenthalts noch einen längeren Spaziergang über ein paar Hügel. Schlecht einsehbare Treppen meiden wir aber. Nach kurzer Zeit begleitet uns ein Hund auf unserem restlichen Spaziergang und passt auf uns auf. Das ist wirklich sehr nett, vielen Dank.
Der Berberaffe
Ein paar Monate später, wir sind gerade in Spanien unterwegs, genauer gesagt in Andalusien, machen wir einen Abstecher nach Gibraltar.
Gibraltar besteht neben dem am Meer liegenden Stadtgebiet hauptsächlich aus einem riesigen Felsen, und auf diesem Felsen leben aus nicht genau geklärten Gründen unzählige Berberaffen.
Jedenfalls sind wir gerade auf dem Rückweg von eben diesem Felsen und gehen eine ziemlich steile und lange Treppe hinunter. Plötzlich rennt jemand von hinten auf Nadine zu. Sie bekommt einen riesigen Schreck. Panik.
Aber der vermeintliche Angreifer läuft einfach weiter. Es ist ein kleiner Berberaffe auf dem Weg zu seiner Mama.
Land: | Chile |
Ort: | Valparaíso |
Reisedatum: | 01.03.2015 - 05.03.2015 |
Autor: | Manuel Sterk |
Veröffentlicht: | 09.10.2018 |
Leser bisher: | 887 |
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Ein schreckliches Erlebnis…
Die Polizei war sehr hilfreich, die deutsche Botschaft überhaupt nicht. Der Zuständige hat meinen Sohn nicht einmal reingelassenen, ins Gebäude, er solle an der Straße betteln, um ans Geld für die Rückfahrt nach Santiago zu kommen. Schrecklich…
Das Land ist wunderschön, doch die Reise dorthin sollte man sich 10 x überlegen. Zu risikoreich!!!