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Guatemala
Flores

Die Stadt im See

Lesedauer: ca. 12 Minuten

Überall in Guatemala wurden Straßenblockaden errichtet, niemand kommt mehr irgendwo hin, auch Lebensmitteltransporte nicht, wodurch sich die Preise bereits vervielfacht haben, lesen wir in den Nachrichten.

Hintergrund ist, dass bei den Präsidentschaftswahlen überraschend ein Kandidat gewonnen hat, der die Korruption im Land bekämpfen will. Und das gefällt den derzeitigen Machthabern überhaupt nicht, weshalb sie jetzt mithilfe der Justiz versuchen zu verhindern, dass dieser sein Amt antreten kann. Was wiederum dem Volk nicht gefällt, welches nun mit Protesten und Straßensperren reagiert.

Aus nachvollziehbaren Gründen rät daher unser Auswärtiges Amt dringend von nicht notwendigen, touristischen Reisen nach Guatemala ab.

Ob es eine gute Idee ist, trotzdem nach Guatemala zu reisen? Wir werden sehen.

Das Wetter

Im Moment gilt unsere größte Sorge etwas ganz anderem: Dem Wetter.
Nachdem dieses Jahr bisher ein ungewohnt heißes und trockenes Jahr in Guatemala war, ist nun, kaum dass wir da sind, Dauerregen bei kühlen Temperaturen angesagt. Irgendwie kommt uns das bekannt vor.

Wir wollen deshalb unsere Guatemala-Reise in einer der wärmsten Regionen Guatemalas starten, in der Region Petén auf der Halbinsel Yucatan. Wenn es schon regnet, dann wollen wir dabei wenigstens nicht frieren.

Flores

Flores ist eine kleine Stadt auf einer Insel inmitten des Sees Petén Itzá, der von einer mit tropischem Regenwald bewachsenen Hügelkette umgeben ist. Eine wirklich sehr schöne Szenerie.
Über einen künstlichen Damm, der aber schlichtweg Puente, also Brücke, genannt wird, ist Flores mit der sehr viel größeren Stadt Santa Elena auf dem Festland verbunden, die jedoch offiziell nur ein Vorort von Flores ist.

Flores ist eine wirklich schöne Stadt, aber hier dominiert der Tourismus. Hotels und Restaurants wechseln sich mit Touranbietern ab.

Der Wasserspiegel

Wir kommen über die Brücke, die ja eigentlich ein Damm ist, in Flores an. Und wollen gleich weiter, nach San Miguel, am gegenüberliegenden Seeufer, denn dort haben wir uns eine Unterkunft ausgesucht. Da wir keine Ahnung haben, wie wir dorthin kommen, möchte ich bei dieser Unterkunft anrufen. Ich habe aber noch keine lokale SIM-Karte für mein Handy, also frage ich einen Bootsführer, der an der Mauer wartet, wo ich eine solche kaufen könnte. Er schickt mich die Uferstraße entlang und dann nach links, dort gäbe es einen Kiosk.
Ich schaue in diese Richtung und muss dann ungläubig nachfragen, ob ich denn zum Kiosk schwimmen soll. Denn die Uferstraße ist komplett überflutet.

Später werde ich erfahren, dass die überfluteten Straßen hier mittlerweile der Normalzustand sind. Es kam wohl auch in der Vergangenheit immer mal wieder vor, dass der Wasserspiegel des Sees zu hoch angestiegen ist, aber dann ist er auch wieder gesunken. Seit ein paar Jahren ist es aber so, dass der Wasserspiegel zwar steigt, aber nicht mehr ausreichend zurückgeht.

San Miguel

In San Miguel verläuft eine Uferstraße direkt vor unserer Unterkunft. Aber da auch diese Uferstraße völlig unter Wasser steht, wohnen wir nun direkt am See. Das Wasser schwappt durch das Tor in den Garten vor dem Haus unserer Vermieter und bildet dort einen kleinen Teich.

Den Fröschen scheint es hier zu gefallen, sie unterhalten uns nachts mit einem mehrstimmigen Konzert. Und der Fortbestand der Froschpopulation scheint gesichert zu sein: Auf der Uferstraße schwimmen riesige Schwärme an Kaulquappen hin und her.

Aber abgesehen von den Fröschen ist hier niemand. Das einzige weitere Zimmer unserer Unterkunft ist nicht belegt und auch insgesamt ist San Miguel ein extrem entspannter, ruhiger Ort.

Hier gibt es zwar nichts, aber Flores mit seiner touristischen Infrastruktur ist nur eine kurze Bootsfahrt entfernt. Für Fußgänger pendeln hierfür schmale Boote, für die Moped-Mitnahme gibt es etwas breitere Boote und auf einer Art Floß mit Motor hinten dran können sogar Autos transportiert werden.

Und von Flores aus muss man dann nur noch über die angebliche Brücke gehen und schon ist man in einer richtigen Stadt mit Einkaufsmöglichkeiten und allem, was man braucht.

Perfekt also.
Wir beschließen, erstmal hier zu bleiben. Vielleicht wird das Wetter im Laufe der Zeit besser.

Unser Zimmer ist die nächsten zwei Wochen verfügbar, außer für eine einzige Nacht, für die wir aber sicherlich ein Ausweichquartier finden werden.

Spanisch

Laut Internet gibt es in Flores eine Spanisch-Sprachschule, und dort wollen wir Privatunterricht buchen, um unsere eingerosteten Sprachkenntnisse etwas aufzufrischen.

Das Problem ist nur, dass es diese Schule an der angegeben Adresse nicht mehr gibt. Wir fragen uns durch die ganze Stadt, bis wir irgendwann vor einem roten Haus stehen, in dem die Sprachschule versteckt sein soll. Aber alles ist verschlossen.

Einige Zeit später ist die Eingangstür geöffnet. Und tatsächlich, hier geht es hinauf zu einer Dachterrassen-Bar, wo die Sprachschule ihr Nach-Corona-Neustart-Quartier bezogen hat. Zweifellos ein sehr schönes Klassenzimmer.

Hin und wieder wird der Unterricht in diesem Klassenzimmer aber gestört, beispielsweise durch einen Prediger, der auf einem Boot vorbeifährt und über Lautsprecher seine christliche Botschaft verkündet.

Jedenfalls haben wir somit für die nächsten Regentage eine sinnvolle Beschäftigung.

Brother Louie

Abends wollen wir eine der wenigen Möglichkeiten in San Miguel nutzen, etwas zu essen und zu trinken. Aber dort läuft lautstark Modern Talking aus den Boxen. Brother Louie.
Wir überlegen es uns dann doch anders und drehen um.

Brother Louie Louie Louie...

In Flores gegenüber gibt es zahlreiche Bars sowie eine Discoteca, und in dieser läuft ein gewagter Musikmix aus Reggeaton und 80er-Jahre-Klassiker. Die Menschen in Guatemala scheinen echte 80er-Fans zu sein, so häufig, wie man diese Musik hier überall hört.
Ich bin in diesem Jahrzehnt groß geworden, habe also bereits eine Überdosis dieser Musik abbekommen und kann sie daher nicht mehr wirklich ertragen. Aber wer jünger ist und noch 80er-Nachholbedarf hat oder wer als Gleichaltriger musikalisch in der Zeit seiner Jugend stecken geblieben ist, dem kann ich eine Reise nach Guatemala empfehlen.

Eine weitere interessante Musikrichtung, die man hier häufiger hört, ist eine Art bayrische Bierzelt-Musik mit spanischsprachigem Gesang. Keine Ahnung, wie dieser interessante Stil genannt wird.

Musikalisch wird einem in Guatemala also einiges geboten.

Und abends gibt es in Flores eine Art Street-Parade: Flores ist so klein, dass man als Autofahrer eigentlich nur im Kreis fahren kann. Und genau das scheint eine beliebte Abendbeschäftigung zu sein. Im dichten Verkehr fährt man in Schrittgeschwindkeit an den Bars vorbei, die Musikanlage voll aufgedreht. Erstaunlicherweise nur mit Reggeaton, kein Modern Talking.

Aber es ist fraglich, wie lange man hier noch im Kreis fahren kann. Denn durch den vielen Regen steigt der Wasserspiegel immer weiter, bereits jetzt hat es das Wasser bis an Stellen geschafft, die bei unserer Ankunft noch trocken waren.

Regen

Es ist kaum vorstellbar, welche Wassermassen hier im Laufe der Tage vom Himmel kommen. Als einer der ersten Lektionen in meinem Spanischkurs lerne ich, die jeweilige Regenintensität korrekt auf der spanischen Wortskala zwischen llovizna und aguacero einzuordnen.
Aber immerhin, sagt meine Lehrerin, würde es um diese Jahreszeit keine Gewitter geben.
Und am selben Nachmittag donnert und blitzt es gewaltig.

„Das ist nicht normal“, diese Aussage über das jeweils aktuelle Wetter müssen wir uns seit Jahren beinahe überall anhören, egal wo wir auf unseren Reisen landen.

Durch den Regen steigt der Wasserspiegel des Sees täglich weiter an. Mittlerweile fahren schon Fischerboote auf der Uferstraße vor unserem Zimmer.

Es fehlt nicht mehr viel, und wir kommen nicht mehr vom Bootsanleger um die Ecke zu unserer Unterkunft. Aber unsere Vermieterin versichert uns, dass die Leute hier bereits dabei sind, Holzstege vorzubereiten.

Waffen und Munition

Aber man darf sich von dem grauen Himmel und dem vielen Regen nicht täuschen lassen: Es ist trotzdem tropisch warm. T-Shirt, kurze Hose und Flipflops sind die passende Kleidung. Es sieht hier also zwar aus wie im deutschen Herbst, fühlt sich aber ganz anders an. Zum Glück.

Und trotz des vielen Regens gibt es immer wieder auch trockene Abschnitte. Und die nutzen wir für ausgedehnte Wanderungen auf den Hügeln hinter San Miguel.

Man darf allerdings nicht den Fehler machen, die Warnungen unseres Auswärtigen Amts zu lesen, denn dann würde man sich vermutlich aufgrund der angekündigten häufigen „Überfälle und Übergriffe“ nicht mehr aus dem Haus trauen, zumindest nicht, ohne dabei an einer geführten, organisierten Tour teilzunehmen. Abschließend erklärt das Auswärtige Amt, dass „Waffen (neben Schusswaffen auch andere Waffen wie Macheten) weit verbreitet sind und die Hemmschwelle für deren Einsatz niedrig ist. In letzter Zeit kommt es vermehrt bei Überfällen zu schweren Verletzungen, teilweise mit Todesfolge.“

Aber wir machen keinerlei negative Erfahrungen, ganz im Gegenteil. Man muss sich allerdings daran gewöhnen, dass hier tatsächlich sehr viele Leute mindestens eine Machete bei sich tragen, zu welchem Zweck auch immer. Aber bisher wurden wir immer nur freundlich begrüßt, wenn mal wieder jemand mit einer Machete in der Hand hinter einem Baum auftaucht.

Und falls jemand vorhat, sich vorbeugend selbst zu bewaffnen: In Santa Elena gibt es zahlreiche Waffen- und Munitionsgeschäfte (armas y municiones), die auf ihren Plakaten ein beeindruckendes Sortiment bewerben.

Aber hier in der Region sei es mittlerweile sehr tranquilo, überzeugt mich meine Spanischlehrerin. Die letzte Schießerei ist bereits einige Wochen her, und da ging es um eine alte offene Rechnung zwischen zwei Jugendbanden (maras), welche aber hier seit längerer Zeit nicht mehr wirklich aktiv sind.

Und vom Drogenschmuggel bekommt man auch nicht viel mit, sagt sie. Kürzlich ist ein Transporter-Konvoi mit schwer bewaffnetem Begleitschutz vom Flughafen in Richtung der Grenze zu Belize gefahren und hat kurzfristig ein Verkehrschaos in Santa Elena ausgelöst, aber das war es dann auch schon.

Sehr gut, dann kann ich ja beruhigt sein.

Land:Guatemala
Ort:Flores
Reisedatum:05.11.2023 - 18.11.2023
Autor:Manuel Sterk
Veröffentlicht:29.11.2023
Leser bisher:58

Übrigens: Die Straßenblockaden wurden mittlerweile aufgelöst und die Lage hat sich weitestgehend normalisiert. Wer also auch nach Guatemala kommen möchte, kann dies nun problemlos tun.

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Bine Graf
Vielen vielen Dank für diese interessanten Einblicke
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